Vorsätze

Das Alte hinter sich lassen

Aus Sicht eines Psychotherapeuten bietet das jüdische Jahr mit seinen Feiertagen und den sich wiederholenden Zyklen und Ritualen zahlreiche Chancen, Fehltritte aus der Vergangenheit zu korrigieren oder zu sühnen. Foto: Flash90

Am Abend des 25. September beginnt Rosch Haschana, das jüdische Neujahrsfest mit dem sinn­orientierten Feuerwerk des Glücks, dem Gefühl gespürter oder gezeigter Freude und Zufriedenheit.

Als Rabbiner empfinde ich Rosch Haschana als ein himmlisches Geschenk, mit dem G’tt uns Seine Liebe offenbart. Aber Rosch Haschana symbolisiert auch einen erfrischenden Start und echten Neuanfang. Gemeint ist damit, loszulassen, was weggehört, das zu akzeptieren, was nicht zu ändern ist, und den Mut zu haben, vor allem trotz der eigenen Angst, das Richtige zu tun. Außerdem wollen wir sehen, was sich psychologisch hinter einem Vorsatz verbirgt.

zyklen Aus Sicht eines Psychotherapeuten bietet das jüdische Jahr mit seinen Feiertagen und den sich wiederholenden Zyklen und Ritualen zahlreiche Chancen, Fehltritte aus der Vergangenheit zu korrigieren oder zu sühnen.

Rabbi Nachman von Bratzlaw (1772–1810) ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er jeden Tag einen »Neustart-Effekt« praktizierte: »Es ist nicht gut, alt zu sein. Selbst ein alter Chassid oder ein alter Zaddik ist nicht gut. Man muss sich selbst erneuern, indem man jeden Tag neu beginnt« (Sichot HaRan, 51).

Jeden Tag neu zu beginnen, hält uns am Leben und schützt uns vor dem Einrosten. Konkret bedeutet das: Völlig egal, was ich getan habe oder was ich durchgemacht habe, die Hauptsache ist immer, davon überzeugt zu sein, dass ich stets neu anfangen kann.

In dem Moment, in dem ich das Gefühl habe, von der Vergangenheit und dem, was ich falsch gemacht habe, festgehalten zu werden, muss ich tief durchatmen und sagen: »Ich fange jetzt, in dieser Minute, neu an!« Das gilt für alle Lebensbereiche.

Psychologen, die den Neustart-Effekt untersucht haben, konnten beweisen, dass er tatsächlich funktioniert. Das Hervorheben bedeutsamer Anlässe motiviert uns, bessere Entscheidungen zu treffen. Und wenn das Ganze auch noch an einen zeitlichen Orientierungspunkt gekoppelt wird, der eine neue Zeitperiode – einen Neuanfang – bedeutet, dann sind wir noch besser in der Lage, uns unsere Fehltritte aus der Vergangenheit zu verzeihen. Wer das Negative hinter sich lässt, kann zielgerichteter das erreichen, was er wirklich will.

SEELE Rabbi Nathan von Bratzlaw (1780–1844), der Rabbi Nachmans Werk veröffentlichte und nach dessen Tod die Bewegung der Bratzlawer Chassidim führte, schreibt in Likutey Halachot (Tefillin 5), dass geistige Lebendigkeit bedeutet, sich ständig zu erneuern, egal auf welcher Ebene man sich befindet. Der moderne Mensch besteht nicht nur aus der Psyche und dem Körper. Er hat auch eine geistige Existenz. Wir sind also kein Körper mit einer Seele, sondern eine Seele mit einem Körper.

Sigmund Freud (1856–1939) sagte, die Menschheit habe gewusst, dass sie einen Geist hat, und er habe ihr zeigen müssen, dass sie vor allem auch Triebe besitzt. Der ebenfalls aus Wien stammende Psychotherapeut Viktor Frankl (1905–1997) sah das kritisch und konstatierte: »Dass die Menschheit Triebe hat, hat sie in den letzten Jahren zur Genüge bewiesen. Heute scheint es doch wieder eher darauf anzukommen, dass man den Menschen daran erinnert, dass er Geist hat, dass er ein geistiges Wesen ist.«

Im Sinne Frankls sollten wir uns also – besonders heute – davor bewahren, »Opfer des tödlichen inneren Sich-Fallen-Lassens«, des Sich-Selbst-Aufgebens zu werden.

sinn Leider sabotieren sich Menschen aus allen Lebensbereichen ständig selbst, indem sie Vorsätze nicht im existenziellen Sinn aufstellen. So geraten ihre negativen Gedanken außer Kontrolle, und dies ist nur die Spitze des Eisbergs.

In einem existenziellen Sinn ist das Aufstellen von Vorsätzen die Ausübung von Freiheit und Willenskraft. Wir sind davon überzeugt, dass unsere Handlungen von Bedeutung sind und einen Wert haben. Wir glauben, dass wir nicht willkürlichen Umständen ausgeliefert sind, und unser gesamter Lebensweg ist auch nicht im Negativ vorbestimmt und steuert ebenso wenig auf ein unausweichliches Ergebnis zu.

Rabbi Nachman von Bratzlaw praktizierte jeden Tag einen »Neustart-Effekt«.

Der Däne Søren Kierkegaard (1813–1855), einer der Begründer der Existenzphilosophie, stellte die Theorie auf, dass die menschliche Unzufriedenheit nur durch innere Weisheit überwunden werden könne.
Die Wahrheit kann nicht allein durch Beobachtung gefunden werden, sie muss unabhängig von empirischen Beweisen im Kopf und im Herzen verstanden werden.

freiheit Da wir G’tt nicht mit unseren Augen sehen können, müssen wir daran glauben, dass Er da ist. Wir springen mit einem »Glaubenssprung« vom Materiellen ins Immaterielle. Genau das verstehe ich als »innere Weisheit«: einen Sprung in den Glauben, ein Akt der Freiheit, der die Angst überwindet, nicht sicher auf der anderen Seite zum Landen zu kommen.

Die Tora erzählt uns von vielen solcher »Glaubenssprünge«, die die Emuna, die Kraft des Glaubens, offenbart: Noach hatte Emuna, hörte auf G’tt, baute eine Arche und rettete so seine Familie. Mosche stellte sich mit Emuna auf die Seite der Israeliten, anstatt im ägyptischen Palast zu bleiben. David stellte sich voller Emuna dem Riesen Goliath entgegen. Der Ewige befreite den Emuna-treuen Josef auf wundersame Weise aus der Sklaverei und übertrug ihm die Verantwortung über ganz Ägypten.
Unsere heroischen Charaktere machten Glaubenssprünge, weil sie auf den allmächtigen G’tt vertrauten. Und so wie sie springen auch wir heute nicht blind ins neue Jahr, denn unser Glaube wird durch Zuversicht und Gewissheit gestützt.

Rosch Haschana ist also eine echte Chance, den kognitiven »Zusammenprall mit dem Eisberg« zu verhindern. Es ist tatsächlich phänomenal, einen Tag oder einen bestimmten Zeitpunkt zu haben, an dem wir loslassen, was uns nicht mehr dient, und das annehmen, was wir werden. All das ist eine kraftvolle und heilige Gelegenheit, uns mit dem Rest der Welt und dem, was um uns herum geschieht, in Einklang zu bringen.

MOTIVATION Haben Sie schon einmal von extrinsischer und intrinsischer Motivation gehört? Die zwei Begriffe gehen auf die Selbstbestimmungstheorie der amerikanischen Psychologen Edward L. Deci und Richard M. Ryan zurück. Sie offenbaren, dass Motivation nicht gleich Motivation ist.

Wenn die Basis Ihrer Vorsätze fürs kommende Jahr Sie gedanklich zu einer greifbaren Belohnung führt oder Sie dazu verleitet, möglichen Bestrafungen auszuweichen, dann sind Sie extrinsisch motiviert.
Wenn Ihre Vorsätze fürs kommende Jahr Sie aber dahin führen, etwas zu tun, das sowohl interessant als auch tief befriedigend für Sie ist, dann sind Sie intrinsisch motiviert.

Studien zeigen immer wieder, dass intrinsische Motivation zu größerer Ausdauer, größerem psychologischen Wohlbefinden und besserer Leistung führt. Gehen Sie also Dingen nach, die Sie begeistern! Ihre Visionen werden Ihnen nur dann klar sein, wenn Sie in Ihr Herz schauen. Der Schweizer Psychiater C. G. Jung (1875–1961) merkte weise an: »Wer nur rausschaut, träumt; wer reinschaut, wacht auf.«

Vorsätze sind demnach sinnvoll, weil sie eine formale Bestätigung dafür sind, dass wir frei sind, das zu werden, was wir sein wollen.
Vorsätze sind ein symbolischer Neustart, um unsere Möglichkeiten zu erkennen, unser Leben in Übereinstimmung mit unseren tiefen Gaben und Talenten zu leben, und unser Potenzial, die Welt auf eine Weise zu verändern, die die einzige Unsterblichkeit verkörpert, die wir genießen können – unser Vermächtnis. Schließlich ist die Art und Weise, wie Sie Ihr Leben leben, Ihre Botschaft an die Welt.

In diesem Sinne: Schana towa umetuka!

Der Autor ist Rabbiner, Paar- und Familientherapeut in Jerusalem. Er ist Verfasser des Buches »Der fröhliche Rabbi und die verschlungenen Wege zum Glück«.

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