Dekalog

Das achte Gebot

Wer schon einmal einen Einbruch erlebt hat, der kennt die Bedeutung eines Übergriffs auf seinen persönlichen Schutzbereich. Foto: Getty Images / istock

Nachdem die vorangegangenen Gesetze dem Schutz menschlichen Lebens sowie dem Schutz von Ehe und Familie als Keimzellen einer stabilen Gesellschaft gewidmet waren, nimmt das achte Gebot »Du sollst nicht stehlen!« (2. Buch Mose 20,14) nun die materielle Sphäre und damit das persönliche Eigentum in den Fokus. Das sollte man zumindest meinen, wenn man sich dieser Vorschrift unbefangen nähert. Doch wie so oft weicht zumindest die traditionelle Lesart von unserem heutigen Verständnis ab.

Nach der ursprünglichen Auffassung unserer Rabbiner bezog sich das hier formulierte Verbot des Stehlens nämlich gar nicht auf den Schutz persönlichen Eigentums oder privater Besitztümer, sondern auf den Diebstahl von Menschen. Gemeint war also das Kidnapping, sprich: der Menschenraub. Doch wie kamen unsere Weisen darauf?

Objekt Das Verbot des Stehlens bezeichnet doch überhaupt kein Objekt. Sprich: Der Text verliert kein Wort darüber, was nicht gestohlen werden darf! Und doch gingen die Rabbiner davon aus, dass hier nur die schlimmste Form des Diebstahls gemeint sein könne, nämlich der Diebstahl eines Menschen.

Zu dieser Schlussfolgerung kamen sie folgendermaßen: Im 3. Buch Mose heißt es ebenfalls, dass man nicht stehlen darf (3. Buch Mose 19,11). Da es aber einen Grundsatz gibt, wonach es in der Tora keine unnötigen Wiederholungen gibt, müsse die dortige Formulierung einen anderen Sachverhalt bezeichnen als die vorliegende.

Schön und gut. Woher aber sollte man nun wissen, welcher Fall hier und welcher dort gemeint war? Dies erschloss sich gemäß den Rabbinen aus dem Zusammenhang: Bei den vorangegangenen Geboten des Dekalogs handelte es sich jeweils um Kapitaldelikte. Das heißt, dass sowohl der Mord als auch der Ehebruch mit der Todesstrafe belegt waren. Eine vergleichbare Strafe war allerdings niemals für Eigentumsdelikte vorgesehen, sondern ausschließlich für den Menschenraub als schlimmste Form des Diebstahls. Deshalb sei aus dem Zusammenhang klar zu erkennen, was uns die Tora hier sagen wolle (Babylonischer Talmud Sanhedrin 86a).

Anwendungsbereich Doch so nachvollziehbar diese Auslegung auch ist, gibt es doch eine Reihe sowohl klassischer als auch zeitgenössischer Kommentatoren, welche sich nicht mit der engen Auslegung dieses Verbotes im Zehnwort begnügen wollen, sondern einen deutlich weiteren Anwendungsbereich annehmen.

Und dafür gibt es gute Argumente: Zum einen findet sich an anderer Stelle im 2. Buch Mose ein Gesetz, das den Diebstahl eines Menschen und dessen anschließenden Verkauf bei Todesstrafe verbietet (2. Buch Mose 21,16).

Wenn diese Handlung dort allerdings ausdrücklich verboten ist, spricht einiges dafür, den Schutzbereich des achten Gebots weiter zu fassen. Schließlich gehen unsere Weisen ja selbst davon aus, dass es in der Tora keine unnötigen Wiederholungen gibt. Außerdem spreche doch der Umstand, dass speziell das achte Gebot unspezifisch und offen formuliert worden sei, für eine weite Auslegung, die nicht beim Menschenraub endet.

Durch Diebstahl werden die Privatsphäre eines Menschen und sein Intimbereich verletzt.

Gerade die Unbestimmtheit, gerade diese Offenheit, gerade diese Vagheit des Gesetzes verlangt nach einer Ausweitung auf eine ganze Reihe von Fällen, die ebenfalls von dem Verbot zu stehlen umfasst sind. Und diese beinhalten eben sehr wohl auch die materielle Sphäre, den Schutz des Eigentums und des persönlichen Besitzes.
Insoweit schreibt etwa der im 16. Jahrhundert lebende Rabbiner Ovadja Sforno in seinem Torakommentar, dass diese Vorschrift sowohl die Entführung als auch das Stehlen von Eigentum und den Betrug umfasst.

Und der frühere britische Oberrabbiner Joseph Hertz bezieht sich in seinem zeitgenössischen Kommentar vor allem auf die Unverletzlichkeit des Eigentums. Dort heißt es, dass dieses Gebot jede unrechtmäßige Aneignung von fremdem Eigentum durch Betrug, Unterschlagung, Untreue oder Fälschung umfasse (J.H. Hertz Kommentar zum 2. Buch Mose 20,13).

Gleichzeitig wirft diese weite Auslegung allerdings eine neue Frage auf: In den Zehn Geboten wurden fundamentale Prinzipien niedergelegt, die universelle und zeitlose Gültigkeit beanspruchen. Doch warum wird hier der Schutz der materiellen Sphäre einbezogen? Sind Eigentumsdelikte nicht zu alltäglich und unbedeutend, um in dieser prominenten Aufzählung einen Platz einzunehmen?

Die Beantwortung dieser Frage lässt tief in das Wesen, das Weltbild und das Wertesystem des Judentums blicken und offenbart gleichzeitig eine scharfe Abgrenzung zu manch anderer, populärer Weltreligion. Und das liegt unter anderem daran, dass das Judentum nicht auf Askese, nicht auf umfassender Enthaltsamkeit, nicht auf der Betonung der geistigen Sphäre zulasten des Weltlichen beruht.

Ressourcen Ganz im Gegenteil. Im Judentum geht es um ein gutes Leben für sich und die anderen. Im Hier und Jetzt. Im Einklang mit G’tt und seiner Tora. Durch den Gebrauch, aber nicht den Missbrauch all der Fähigkeiten, der Ressourcen, der Möglichkeiten, die der Ewige uns in dieser Welt zur Verfügung gestellt hat.

Es geht um ein gutes, glückliches Leben, das nicht auf Kosten anderer erkauft wird. Nicht auf Kosten unseres Nächsten und nicht auf Kosten von G’tt. Stattdessen verlangt das Judentum die sorgfältige und gefühlvolle Balance aller Sphären. Es verlangt die Übernahme von Verantwortung sich selbst gegenüber, dem Ewigen gegenüber und seinen Mitmenschen gegenüber.

In den Sprüchen der Väter beschrieben die Rabbinen diese Verantwortungstroika als wesentliche Bedingungen für ein gutes Leben und eine gerechte Gesellschaft. Dort heißt es: Auf drei Dingen beruht die Welt – auf der Tora, auf G’ttesdienst und auf Nächstenliebe. Höher als die Erforschung der Lehre steht aber die gute Tat (Sprüche der Väter 1,17).

Zu diesem Zweck sind wir als Menschen geschaffen. Körperlich, stofflich, irdisch, um in dieser Welt, im Hier und Jetzt, in einem jeden Moment unsere Arbeit zu erledigen, anstatt unsere Gedanken und Hoffnungen auf eine kommende Welt zu lenken.

Selbstbestimmung Unsere Menschlichkeit definiert sich dabei durch unser freies, selbstbestimmtes Handeln in einem jeden Moment unseres Lebens. Durch die Fähigkeit, uns zu entfalten. Und dabei spielt der Besitz, das Eigentum, die Fähigkeit, die eigene Umwelt zu kontrollieren, eine unschätzbare Rolle.

Der amerikanische Schriftsteller David Hazony griff diese Gedanken in seinem Buch The Ten Commandments auf. Er schreibt, dass die Eigentümerschaft die grundlegendste Form unserer Selbsterweiterung sei. Kleine Kinder etwa wüssten noch nicht, was es bedeute, Verantwortung zu übernehmen, zu lieben oder zu beschützen. Aber sie wüssten, was es bedeute, etwas zu besitzen.

 

Es geht nicht nur um Eigentum, sondern um die Ausübung persönlicher Freiheit.

Durch Dinge und durch Eigentum würden wir uns selbst entdecken, uns in einer physischen Welt mitunter definieren und uns selbst erweitern. Und gerade, weil ein jeder das Recht besitze, seine eigene kleine Welt zu kontrollieren, folge daraus zwangsläufig, dass wir die Rechte unserer Mitmenschen mindestens ebenso sehr berücksichtigen, respektieren und wahren müssen wie unsere eigenen.

Die Verletzung fremder Eigentumssphären ist unter diesem Blickwinkel dramatischer, als es auf den ersten Blick scheint. Verletzt wird nämlich nicht nur das Eigentum als ein abstraktes Rechtskonzept, sondern etwas sehr Persönliches. Verletzt wird die Persönlichkeit eines Menschen, ein Ausdruck seiner Identität; sein privater und intimer Kernbereich.

In wessen Haus schon einmal eingebrochen wurde, der versteht, was hier gemeint ist. Der weiß, dass der Einbruch einem Übergriff auf einen persönlichen Schutzbereich gleicht. Einer Entweihung, einer Schändung. Und dass es nicht unbedingt um den Verlust materieller Güter geht, die mitunter ersetzbar sind, sondern um das Gefühl der Verletzlichkeit, der Unsicherheit, der Angreifbarkeit, das durch das gewaltsame Eindringen in die persönliche Eigentumssphäre entstanden ist.

Schlechtigkeit Bei der Frage, weshalb G’tt entschied, die Menschheit zu Zeiten Noahs zu zerstören und noch einmal neu anzufangen, heißt es in der Tora, dass die Welt mit Schlechtigkeit erfüllt war. Ein mehrdeutiger Begriff, den die Rabbinen vor allem mit Diebstahl und Habgier in Verbindung brachten. Taten, die sie also als so schwerwiegende Verstöße gegen eine zivilisierte Gesellschaftsordnung verstanden, dass sie sogar die Vernichtung der Menschheit rechtfertigten.

Denn es geht eben nicht nur um die bloße Eigentümerschaft an einer Sache oder einem Gegenstand. Es geht um die Ausübung persönlicher Freiheit, um Selbstdefinition, um Identität und um Menschlichkeit als solche. Deshalb, so David Hazony, habe sich das Verbot des Stehlens in der frühen rabbinischen Vorstellung auch in einer vollständigen Unterwerfung eines anderen Menschen ausgedrückt.

In letzter Konsequenz führt ein ungezügelter Selbstverwirklichungsdrang also zu der Auffassung, dass andere sich unterzuordnen haben, dass sie überhaupt nicht als Menschen betrachtet werden, dass sie stattdessen als Sache begriffen werden, die man besitzen kann. Und der Menschenraub wäre daher der ultimative Ausdruck dieser Weltsicht.

So oder so ist eines unbestreitbar: Persönliches Eigentum als Ausdruck unserer Identität, unserer Freiheit und unserer Menschlichkeit verlangt gleichzeitig den Respekt vor der Wahrung des Eigentums anderer. Und dieser Respekt, die Wahrung dieser persönlichen Schutzzone, ist elementar für unser zivilisiertes Zusammenleben und die Aufrechterhaltung unseres Gemeinwesens.

Wegen dieser Gründe hat das Verbot zu stehlen vollkommen zu Recht seinen Platz in den Zehn Geboten gefunden. Als elementarer Teil des ewigen Gesetzes.

Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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