Nizawim

Danke fürs Belehren

Es geht nicht darum, den anderen niederzumachen, sondern er soll in dem Hinweis das Positive sehen können. Foto: JJPan

An diesem Schabbat lesen wir den Wochenabschnitt Nizawim. Das hebräische Wort »Nizawim« bedeutet so viel wie »ihr steht«. Das jüdische Volk steht also am Ostufer des Jordans. Mosche wendet sich an die Israeliten mit den Worten: »Ihr alle steht heute vor G’tt und schließt einen Bund mit Ihm, ihr und alle Generationen nach euch.«

Mosche kritisiert das jüdische Volk und prophezeit, dass die Juden, wenn sie sich im Land Israel niederlassen, unter den Einfluss der benachbarten Nationen geraten, sich nach den fremden Sitten verhalten und deren Götzen anbeten werden. Dafür wird der Allmächtige die Juden durch große Drangsal und Elend aus dem Land Israel vertreiben. Auch die anderen Völker werden in diesen Ereignissen eine Strafe von oben sehen und die Frage stellen: »Warum hat G’tt dieses Land und dieses Volk so bestraft?«, und sie werden antworten: »Weil sie ihr Bündnis mit G’tt gebrochen haben.«

Aber am Ende des Kapitels sagt Mosche dem jüdischen Volk, dass es seine Taten bereuen wird. Und G’tt wird es sammeln und ins Land Israel zurückbringen.

Vielleicht sind Sie und ich Zeuge, wie sich diese Prophezeiung gerade vor unseren Augen erfüllt. Wir sehen, wie die Juden nach 2000 Jahren Exil auf wundersame Weise in ihr Land zurückkehren konnten. Es ist das einzige Mal in der Geschichte, dass ein Volk nach so langer Zeit in sein angestammtes Land zurückkehrt.

RECHTFERTIGEN In diesem Kapitel finden wir viele kritische Bemerkungen von Mosche gegenüber dem jüdischen Volk. Es gibt noch viele andere Beispiele für Kritik in der Tora. Zum Beispiel kritisiert Mosche häufig das jüdische Volk, seine Führer und wegen des Goldenen Kalbs sogar seinen Bruder Aharon. Unser Urvater Jakow tadelte seine drei Söhne Reuven, Schimon und Levi. Im Tanach versucht die kritisierte Partei nie, sich zu rechtfertigen oder ihre Argumente zu beweisen, geschweige denn, den Kritiker zu kritisieren.

Wie unterschiedlich ist es doch in unserer Zeit, bei jedem von uns. Der Wunsch, recht zu haben, erfüllt uns so sehr, dass er uns daran hindert, auf Kritik zu hören und unsere eigenen Unzulänglichkeiten einzusehen, geschweige denn die guten Seiten und Qualitäten des anderen zu erkennen. Wir fühlen uns meist so sehr im Recht, dass wir, bevor wir überhaupt einen Kommentar gehört haben, sofort reagieren und zurückschlagen. Ja, möglicherweise konnten wir uns selbst beweisen, dass wir recht behalten haben, aber wir haben nichts Neues gelernt und haben unsere negativen Seiten nicht beachtet.

WACHSEN Von Rebbe Rashab, Rabbi Sha­lom Dov Ber Schneerson, dem fünften Lu­bawitscher Rebben (1860–1920), ist der Ausspruch überliefert: »Liebe die Kritik, denn sie wird dich wahrlich erheben.«

Der Mensch muss sich weiterentwickeln und geistig wachsen. Auch das unterscheidet uns von den Tieren. Tiere können ihre Fehler nicht erkennen, geschweige denn korrigieren. Diejenigen, die sich wirklich weiterentwickeln wollen, nehmen Kritik an und hören auf sie, um besser zu werden.

Das heißt aber auch nicht, dass wir die ganze Welt in Ordnung bringen sollten, indem wir sie kritisieren. In der Tora steht: »Hasse deinen Bruder nicht in deinem Herzen, ermahne deinen Nächsten, und du wirst dich nicht versündigen« (3. Buch Mose 19,17).

Unsere Weisen erklären, dass man den Nächsten nur dann kritisieren kann, wenn kein Hass im Herzen ist und man ihn wirklich liebt. Die kritisierte Person wird sich in diesem Fall nicht verletzt fühlen. Sie wird verstehen, dass es zu ihrem Nutzen gesagt wird, und vielleicht wird sie auf diese Worte hören.

Rabbi Yosef Yitzchak Schneerson, der sechste Lubawitscher Rebbe (1880–1950), erzählte seiner Gefolgschaft nach dem Besuch eines Krankenhauses, dass er Zeuge wurde, wie ein Arzt einem Mann, der sich vor Schmerzen krümmte, eine Spritze geben wollte. Der Arzt zog einen weißen Kittel an, wischte sich die Hände mit Alkohol ab, zog Handschuhe an, bereitete die Injektion sorgfältig vor und verabreichte sie schließlich sehr vorsichtig, wobei er versuchte, dem Patienten so wenig Schmerzen wie möglich zuzufügen. Rebbe Yosef Yitzchak Schneerson sagte: »Genauso müssen wir uns vorbereiten und prüfen, ob unsere Hände und Absichten sauber sind, bevor wir jemandem etwas Stacheliges sagen.«

FEHLER Paraschat Nizawim wird immer vor Rosch Haschana gelesen, einem Feiertag, an dem wir das vergangene Jahr Revue passieren lassen und G’tt um Vergebung für unsere Fehler bitten.

An Rosch Haschana sagen wir in jedem Gebet die Worte: »Du, G’tt, bist recht und gerecht, aber wir sind voller Schande.«

Plötzlich erinnern wir uns daran, dass wir nicht immer recht haben. Vielleicht sind wir doch nicht so perfekt.

Es gibt eine Geschichte von einem jungen und fähigen Rabbiner, der zum Rabbiner und Obersten Richter in einer europäischen Stadt ernannt wurde. Er ging zu seinem Rebben, um sich segnen und unterweisen zu lassen. Sein Lehrer sagte zu ihm: »Du wirst als Oberster Richter entscheiden müssen, wer recht und wer unrecht hat, aber du musst wissen, dass sehr selten nur eine Seite recht hat. Deine Aufgabe ist es, zu entscheiden, wer nach den Gesetzen der Tora mehr recht hat.«

GRÖSSE Der Gurer Rebbe, Yehuda Aryeh Leib Alter (1847–1905), studierte als Jugendlicher bei seinem Großvater. Sein Unterricht begann jeden Tag um 6.30 Uhr. Einmal lernte er mit einem Freund bis in den Morgen hinein, machte erst kurz vor dem Unterricht seines Großvaters ein kurzes Nickerchen und kam deshalb ein paar Minuten zu spät zum Unterricht. Sein Großvater warf ihm vor, er schlafe sehr gern. Als sein Freund, bei dem er lernte, davon erfuhr, fragte er: »Warum hast du deinem Großvater nicht erzählt, dass du die ganze Nacht aufgeblieben bist und Tora gelernt hast?« Der Gurer Rebbe antwortete, er habe die Gelegenheit nicht verpassen wollen, Worte der Belehrung von seinem Großvater zu hören, der zu dieser Zeit der Gurer Rebbe war.

Die Perspektive zu ändern, Kritik anzunehmen und das Positive darin zu sehen, wenn man von anderen belehrt wird, mag in vielen Situationen schwierig und manchmal auch vollkommen unsinnig erscheinen. Es zeigt jedoch auch eine besondere Größe, so wie in der Geschichte des Gurer Rebben.

Ich wünsche allen ein gutes und süßes Jahr, und so G’tt will, werden wir nächstes Jahr an uns arbeiten und zu noch besseren Menschen werden.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.

inhalt
Im Zentrum des Wochenabschnitts steht der Bund des Ewigen mit dem gesamten jüdischen Volk. Diesmal sind ausdrücklich auch diejenigen Israeliten miteinbezogen, die nicht anwesend sind: die künftigen Generationen. Gott versichert den Israeliten, dass Er sie nicht vergessen wird, doch sie sollen die Mizwot halten.
5. Buch Mose 29,9 – 30,20

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