Tradition

Buchstaben mit Krönchen

»Rawa sagte: ›Sieben Buchstaben benötigen drei Strichlein, und zwar: Schin, Ajin, Tet, Nun, Zajin, Gimel und Tzade.‹« Foto: picture alliance / ZB

Der Talmud berichtet von einem Dialog zwischen dem Ewigen und Mosche, der nicht in der Tora steht (Schabbat 89a): »Rabbi Jehoschua Ben Levi sagte: Zur Stunde, da Mosche in die Höhe stieg, traf er den Heiligen, gepriesen sei Er, als dieser Buchstaben (in der Tora) Krönchen aufsetzte. Gott sprach zu ihm: ›Mosche, kennt man in deiner Ortschaft keinen Gruß?‹ Da antwortete Mosche: ›Herr der Welt, grüßt denn ein Knecht seinen Herrn?‹ Da sagte Gott: ›Du solltest mich unterstützen!‹ (Bei der nächsten Gelegenheit) sprach jener: ›Nun sei doch die Kraft meines Herrn groß‹ (4. Buch Mose 14,17).«

SEGEN Dass Gott einen Menschen um Unterstützung bittet, mag uns sehr merkwürdig vorkommen. Rabbiner Baruch HaLevi Epstein (1860–1941) hat in seinem Werk Tora Temima jedoch auf eine vergleichbare Bitte hingewiesen: »Als der Hohepriester Jischmael Ben Elischa an Jom Kippur das Allerheiligste betrat, sprach der Ewige zu ihm: ›Jischmael, mein Sohn, segne mich!‹ Ich sprach zu ihm: ›Möge es Dein Wille sein, dass Deine Barmherzigkeit Deinen Zorn bezwinge.‹ (…) Da nickte Er mir beifällig zu« (Berachot 7a). Dazu erklärt die Gemara: »Dies lehrt uns, dass der Segen eines Gemeinen nicht gering sei in deinen Augen!«

Was lehrt uns der oben angeführte Dialog zwischen Gott und Mosche Rabbenu? Rabbiner Joseph Chajim (1834–1909) aus Bagdad bemerkte, dass der Ewige den Segen von Mosche keineswegs braucht. Der Herr der Welt wollte durch seine rhetorische Frage lediglich deutlich machen, wie Menschen miteinander umgehen sollen, und auf die Grußpflicht hinweisen.

In der eingangs zitierten Talmudpassage war von Buchstaben mit Krönchen die Rede. Was es mit den aus drei dünnen Strichen gebildeten Krönchen auf sich hat, erläutert der Talmud an anderer Stelle: »Rabbi Jehuda sagte im Namen Raws: Als Mosche in die Höhe stieg, traf er den Heiligen, gepriesen sei Er, als Er Krönchen auf Buchstaben setzte. Da sprach Mosche: ›Herr der Welt, wer hält Dich zurück (die Tora ohne Krönchen zu geben)?‹ Gott erwiderte: ›Es gibt einen Mann, der erst nach vielen Generationen kommen wird, Akiwa Ben Joseph heißt er. Dieser Mann wird dereinst über jedes Häkchen zahlreiche Lehren vortragen‹« (Menachot 29b).

Rabbi Akiwa Mosche hat also die Frage nach der Bedeutung der Krönchen in der Tora gestellt. Gott hielt die Frage seines Propheten für berechtigt und antwortete ihm, dass der berühmte Tannait Rabbi Akiwa in einer späteren Epoche lehrreiche Vorträge über die dünnen Striche halten wird.

Rabbi Jehuda Löw, der Maharal von Prag (1520–1609), erklärt, dass die vom Ewigen nachträglich hinzugefügten Krönchen auf eine Tiefendimension der Tora hinweisen, die sogar dem größten unserer Propheten, Mosche Rabbenu, nicht zugänglich war. Hingegen war Rabbi Akiwa durch seine rabbinische Lernweise in der Lage, die Häkchen in der Tora trefflich zu interpretieren.

Die Gemara in Menachot listet die Buchstaben auf, denen ein Krönchen aufgesetzt werden soll: »Rawa sagte: ›Sieben Buchstaben benötigen drei Strichlein, und zwar: Schin, Ajin, Tet, Nun, Zajin, Gimel und Tzade.‹« Es ist auffällig, dass Rawa die sieben Buchstaben nicht in der alphabetischen Reihenfolge genannt hat. Im Talmud stehen vielmehr zwei Wörter als Abkürzungen, die man sich leicht merken kann: Schatnes und Gatz.

In seinem Torakommentar (zu 5. Buch Mose 6,9) äußerte Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) eine kühne Vermutung: Schatnes bedeute eben Schatnes, und Gatz sei die Abkürzung von Gemillut Chassadim und Zedaka (Wohltätigkeit). Schatnes, das Verbot, Wolle und Flachs zusammen anzuziehen (3. Buch Mose 19,19 und 5. Buch Mose 22,11), repräsentiere die nichtrationalen Vorschriften der Tora, und Wohltätigkeit repräsentiere diejenigen Toragesetze, deren Zweckmäßigkeit jedem einleuchtet.

Beide Gruppen von Mizwot sind wie die Krönchen in der Tora göttlichen Ursprungs.

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025

Trauer

Eine Brücke zwischen den Welten

Wenn ein Jude stirbt, gibt es viele hilfreiche Riten. Doch auch für Nichtjuden zeigt die Halacha Wege auf

von Rabbiner Avraham Radbil  05.09.2025

Ki Teze

In Seinem Ebenbild

Was der Tanach über die gesellschaftliche Stellung von Frauen sagt

von Rabbinerin Yael Deusel  04.09.2025

Anti-Judaismus

Friedman: Kirche hat »erste globale Fake News« verbreitet

Der gebürtige Pariser warnte zudem vor weltweiten autokratischen Tendenzen und dem Verlust der Freiheit

 02.09.2025