Tradition

Brief aus Los Angeles

Foto: Thinkstock

Ich weiß nicht viel über die jüdische Gemeinschaft in Deutschland. Ich lebe in Los Angeles, wo ich seit zehn Jahren jede Woche eine Kolumne über die jüdische Welt verfasse. Ich weiß eine Menge über die jüdische Gemeinschaft in Amerika – aber Deutschland? Fast nichts. Ich bin noch nie dort gewesen. Ich habe noch nie einen deutschen Juden getroffen. Dennoch haben die Redakteure dieser deutschen Zeitung mich um einen Text gebeten.

Ich habe sie nicht gefragt, warum, aber ich glaube, ich weiß es. Als sie Kontakt zu einem Juden am anderen Ende der Welt aufnahmen, einem Juden, den sie nicht kannten, taten sie das, weil sie die feste Überzeugung hatten, ich hätte etwas gemeinsam mit Leuten, denen ich noch nie begegnet bin – mit Ihnen, den Lesern dieser Zeitung. Was ist es, das Sie und ich gemeinsam haben?

Schabbat Lassen Sie mich eine Geschichte über den Schabbattisch am Freitagabend in meinem Haus in Los Angeles erzählen. Ich habe fünf Kinder, und sie sind alle ziemlich unabhängig. Ich kann ihnen nicht sagen, was sie denken sollen. Sie haben ihre eigenen Ansichten über das Judentum. Sie haben ihre Zweifel, stellen Fragen, sind skeptisch. Doch trotz aller Zweifel an Gott oder an den jüdischen Traditionen – am Freitagabend versammeln wir uns alle um unseren Schabbattisch.

Im Laufe der Jahre teilten wir Hunderte von Momenten, Geschichten und Debatten. Und von den Tausenden von Dingen, über die an diesem Tisch gesprochen wurde, möchte ich Ihnen eines mitteilen, das den größten Einfluss auf meine Kinder und ihre jüdische Identität hatte. Nichts besonders Tiefgründiges oder Philosophisches. Kein tolles Zitat von einem der großen jüdischen Weisen. Nur eine persönliche Beobachtung.

An einem Freitagabend, kurz vor dem Kiddusch, sagte ich zu meinen Kindern: »Ich kann nicht glauben, dass meine Vorfahren vor 1000 Jahren in einem kleinen Dorf in Marokko genau den gleichen Kiddusch rezitierten, den wir jetzt sprechen. Den exakt gleichen Kiddusch! Wie ist das möglich?« Den ganzen Abend lang erörterten wir diese Idee. Wir sprachen über die Tatsache, dass seit der Zerstörung des Zweiten Tempels die Juden 1900 Jahre lang durch die ganze Welt wanderten; oft wurden sie verfolgt, nie konnten sie sich hundertprozentig sicher fühlen, doch stets hielten sie an ihrer Tradition fest.

Tora »Stell dir vor«, sagte eines meiner Kinder, »eine Million Schabbattische rund um die Welt seit 1900 Jahren, und jeden Freitagabend rezitieren sie alle den exakt gleichen Segen. Wie ist das möglich?« »Und jeden Samstagmorgen«, fuhr ein anderes fort, »wenn sie in die Synagoge gingen, lasen sie alle aus der gleichen Tora. Der exakt gleichen Tora! Wie ist das möglich?« Ja, wie ist es möglich, dass 1900 Jahre lang Juden in Marokko, Südamerika, Asien, Europa, China, Indien, Afrika – Juden überall auf der Welt – die gleichen Worte lasen? Diese Tatsache ist für meine Kinder ein größeres Wunder als die Teilung des Roten Meeres durch Moses.

Man muss zugeben, die Wunder der Bibel fordern ein hohes Maß an blindem Glauben. Das ist Teil ihrer Kraft. Aber die simplen Geschichten unserer Vorfahren haben eine andere Art von Kraft. Mein Urgroßvater David, der die Kabbala in Marrakesch studierte, hat mich tiefer beeinflusst als der biblische König David. Warum? Weil ich ihn spüren kann. Ich kann ihn berühren. Ich kann ihn sehen. Er ist meine Familie. Genauso wie die 100 Großväter und 100 Großmütter, die mir seit der Zerstörung des Zweiten Tempels vorangegangen sind.

Ich stelle mir vor, wie alle meine Großeltern aus 100 Generationen sich jeden Freitagabend um den Schabbattisch versammeln und den gleichen Segen sprechen, den ich heute mit meiner Familie in Beverly Hills rezitiere. Sie lasen die gleichen Worte, die Juden heute in Deutschland und auf der ganzen Welt lesen.

WUnder Das ist für mich das größte jüdische Wunder von allen: die Fähigkeit eines Volkes, über Tausende von Jahren hinweg die gleichen heiligen Worte zu sprechen, obwohl sie einander nie gesehen haben und alles sonst an ihnen verschieden ist – ihre Kultur, ihr Akzent, ihre Sprache, alles. Ja, wir fügen jeden Freitagabend auch unsere eigenen Worte hinzu. Wir diskutieren, wir erzählen Geschichten, wir fragen.

Aber es sind die Worte unserer Vorfahren, die Segenssprüche, die Tora, die uns an den Tisch binden und uns zusammenbringen. Werden Juden diese Tradition in den nächsten 1900 Jahren fortsetzen? Nur wenn wir uns der Worte unserer Vorfahren erinnern, bevor wir an unsere eigenen denken.

Der Autor ist Präsident von Tribe Media in Los Angeles.

Berlin/Potsdam

Zentralrat der Juden erwartet Stiftung für Geiger-Kolleg im Herbst

Zum Wintersemester 2024/25 soll sie ihre Arbeit aufnehmen

 26.07.2024

Potsdam

Neuer Name für das Abraham Geiger Kolleg bekannt geworden

Die Ausbildungsstätte für liberale Rabbiner soll nach Regina Jonas benannt werden

 26.07.2024

Pinchas

Der Apfel fällt ganz weit vom Stamm

Wie es passieren konnte, dass ausgerechnet ein Enkel Mosches dem Götzendienst verfiel

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  26.07.2024

Talmudisches

Das Leben im Schloss

Was unsere Weisen über die Kraft des Gebetes lehren

von Vyacheslav Dobrovych  26.07.2024

Armeedienst

Beten oder schießen?

Neuerdings werden in Israel auch Jeschiwa-Studenten rekrutiert. Unser Autor ist orthodoxer Rabbiner und sortiert die Argumente der jahrzehntelangen Debatte

von Rabbiner Dovid Gernetz  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Ethik

Auf das Leben!

Was ist die Quintessenz des Judentums? Der Schriftsteller Ernest Hemingway hatte da eine Idee

von Daniel Neumann  19.07.2024

Balak

Verfluchter Fluch

Warum der Einsatz übernatürlicher Kräfte nicht immer eine gute Idee ist

von Rabbinerin Yael Deusel  19.07.2024

Talmudisches

Chana und Eli

Über ein folgenreiches Gespräch im Heiligtum

von Rabbiner Avraham Radbil  19.07.2024