Rabbi Berel Wein war ein Lehrer, Historiker und Autor, der weit über die orthodoxe Welt der Vereinigten Staaten und Israels hinaus bekannt wurde. Er hat zahlreiche Bücher und Texte veröffentlicht, auch in dieser Zeitung sind einige seiner Betrachtungen erschienen. In seinen Videos, Audiobeiträgen, Reden und Predigten erreichte er mit seinen Botschaften zu Tora, Moral, Gerechtigkeit und Frieden unzählige Menschen in aller Welt. Der frühere Gemeinderabbiner und spätere Rosch Jeschiwa ist vor wenigen Wochen im Alter von 91 Jahren in Israel gestorben.
In einem seiner Kommentare zum Wochenabschnitt Wajera schrieb er, dass die Tora und das Judentum im Allgemeinen das menschliche Leben über alles andere stellen. In der jüdischen Geschichte und in der Halacha finden sich nur selten Fälle, in denen das menschliche Leben nicht der höchste Wert ist – vor allen anderen Verhaltensweisen und Idealen.
In der Tora gibt es nur drei Verbote, die selbst unter Todesandrohung nicht übertreten werden dürfen: Götzendienst, Mord und verbotene sexuelle Beziehungen. Die übrigen 610 Ge- und Verbote dürfen nicht nur, sondern müssen sogar übertreten werden, wenn es darum geht, das Leben des Einzelnen zu erhalten.
Idee von der Heiligkeit und Unversehrtheit des menschlichen Lebens
Die Geschichte der Akedat Jizchak, der Bindung Jizchaks – Awraham soll seinen Sohn Jizchak dem Allmächtigen opfern und wird im letzten Moment vom Himmel daran gehindert –, veranschaulicht diese Idee von der Heiligkeit und Unversehrtheit des menschlichen Lebens.
So edel diese Idee auch ist, sie versagt oft angesichts schwieriger praktischer Umstände. Das beste und zugleich schlimmste Beispiel ist der Krieg. Es gibt keinen Krieg im klassischen Sinn, in dem nicht Menschen getötet werden. Und die Tora erkennt in ihrem Erzähl- und Wertesystem Krieg durchaus als bittere Realität – und manchmal als eine traurige Notwendigkeit – an.
Die Tora berichtet, dass selbst der gütige, gastfreundliche und rechtschaffene Awraham in den Krieg zog, um seinen Verwandten Lot, der als Geisel genommen wurde, zu retten. Auch als Jakows Tochter Dina von einem ausländischen Prinzen gekidnappt wurde, richteten ihre Brüder ein Blutbad an, ehe sie ihre Schwester aus der Gefangenschaft befreiten.
Auch die gegenwärtige Situation – das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza, um die (Gʼtt sei Dank inzwischen befreiten) lebenden Geiseln aus den blutigen Händen der Hamas zu retten – erinnert uns an diese Geschichten aus der Tora und an die Diskussionen darüber in den Kommentaren. Dieser Diskurs ist nicht neu. Es ist offensichtlich, dass der Wert des menschlichen Lebens, so dominant er im Judentum auch ist, nie ganz absolut sein kann.
Und dies wirft jene moralischen Fragen auf, denen sich jede Generation, jede Nation und sogar jeder Einzelne irgendwann in seinem Leben – und die Gesellschaft als Ganzes – stellen muss: Wann und unter welchen Umständen ist es gerechtfertigt, ein Leben zu nehmen?
Es ist kompliziert
Die Halacha bietet einige Hinweise zu diesem Thema. Das jüdische Religionsgesetz erlaubt Selbstverteidigung, Präventivschläge und die Hinrichtung von Verbrechern, die die Existenz der Gesellschaft bedrohen. Auch die jüdische Geschichte liefert uns Einblicke, indem sie etwa Selbstmord gegenüber Zwangskonversionen oder einem Leben in Schande manchmal als erlaubt ansieht.
Aufgrund dieser Spannweite eines scheinbar absoluten Wertes werden viele Fragen aufgeworfen – und das fast immer in durchaus herzzerreißenden und komplizierten Fällen. So ist beispielsweise das Thema Sterbehilfe immer noch auf der Tagesordnung der rabbinischen Responsa, obwohl dafür aus jüdischer Sicht grundsätzlich ein Verbot gilt. Auch ist im jüdischen Recht die Abtreibung grundsätzlich verboten, doch gestatten einzelne angesehene rabbinische Autoritäten sie in Ausnahmefällen und unter bestimmten Umständen.
Regeln und Grundsätze sind deutlich, doch der Einzelfall bleibt unklar
Die aktuelle Debatte in der westlichen Welt über die Stammzellforschung steht vor einem weiteren moralischen Dilemma: der Frage nach der Zulässigkeit der Tötung menschlicher Föten im Hinblick auf die mögliche Rettung von Menschen vor genetischen und anderen Erkrankungen.
Die allgemeinen Regeln und Grundsätze sind deutlich, doch im Einzelfall bleibt die Angelegenheit unklar. Das gilt auch für die Akeida. Denn auch Awraham scheint dem Midrasch zufolge hin- und hergerissen zu sein, nachdem er zuerst den Auftrag erhielt, Jizchak zu opfern, und am Ende selbst vom Engel Gʼttes angewiesen wurde, seinen Sohn nicht zu opfern.
Die höchste Bewährungsprobe liegt in der Fähigkeit des Menschen, sein Verhalten dem Willen Gʼttes anzupassen. Dies ist der einzige wirklich absolute Wert im Judentum, der keine Ausnahmen oder Abweichungen zulässt.
Die höchste Bewährungsprobe liegt in der Fähigkeit des Menschen, sein Verhalten dem Willen Gʼttes anzupassen.
Awraham wird sowohl für die Bereitschaft, seinen Sohn zu opfern, als auch dafür belohnt, dass er das Opfer letztendlich nicht vollzog. Der gemeinsame Nenner in Awrahams scheinbar widersprüchlichem Verhalten ist seine beständige Bereitschaft, Gʼttes Willen zu akzeptieren und sich entsprechend zu verhalten. Diese Haltung ist zur Grundlage aller halachischen Entscheidungen und des jüdischen Verhaltens im Laufe der Zeit geworden – der fortwährende Versuch, Gʼttes Willen unvoreingenommen zu verstehen und gehorsam zu befolgen.
Vielleicht ist genau das der Grund, warum die Geschichte der Akeida ausgerechnet an Rosch Haschana während des Gʼttesdienstes aus der Tora vorgetragen wird. Denn an Rosch Haschana erkennen wir Gʼtt als den absoluten und allmächtigen König und den wahren und alleinigen Herrscher der Welt an.
In diesem Sinne lesen wir die Geschichte eines Mannes, der bereit war, dem Befehl seines Königs gegen jegliche Vernunft und Logik zu folgen – und der ebenso bereit war, dem neuen Befehl zu folgen, den ursprünglichen Auftrag nicht auszuführen. Genau diese außergewöhnliche Fähigkeit und Bereitschaft ist Awrahams Vermächtnis an uns, seine Nachkommen.
Der Autor ist Gemeinderabbiner der Synagogengemeinde Konstanz und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD).
PARASCHAT WAJERA
Der Wochenabschnitt erzählt davon, wie Awraham Besuch von drei gʼttlichen Boten bekommt. Sie teilen ihm mit, dass Sara einen Sohn zur Welt bringen wird. Awraham versucht, den Ewigen von seinem Plan abzubringen, die Städte Sedom und Amora zu zerstören. Lot und seine beiden Töchter entgehen der Zerstörung, seine Frau jedoch erstarrt zu einer Salzsäule. Awimelech, der König von Gerar, nimmt Sara zur Frau, nachdem Awraham behauptet hat, sie sei seine Schwester. Dem alten Ehepaar Awraham und Sara wird ein Sohn geboren: Jizchak. Hagar und ihr Sohn Jischmael werden fortgeschickt. Am Ende der Parascha prüft der Ewige Awraham: Er befiehlt ihm, Jizchak zu opfern. (1. Buch Mose 18,1 – 22,24)