Talmudisches

Audienz beim König aller Könige

Foto: Flash 90

Talmudisches

Audienz beim König aller Könige

Was unsere Weisen über das Gebet und seine Bedeutung lehren

von Rabbiner Avraham Radbil  31.10.2025 10:21 Uhr

Im Babylonischen Talmud (Berachot 32b) wird eine Passage aus der Mischna diskutiert, in der es darum geht, dass man sein Gebet nicht unterbrechen soll: »Selbst wenn einen der König grüßt, erwidere man ihm nicht« (30b).

Die Frage ist, ob dabei ausschließlich ein jüdischer König gemeint ist, der gegenüber dem Betenden Verständnis aufbringen würde. Bei einem anderen König hätte das Nichterwidern seines Grußes zu schwerwiegenden Konsequenzen bis hin zur Todesstrafe führen können.

Mitten in dieser Diskussion bringt der Talmud die Geschichte eines frommen Mannes (Chassid), der auf einer Reise betete, als ein Offizier (Hegmon) auf ihn zukam und ihn grüßte. Der fromme Mann setzte sein Gebet fort und erwiderte den Gruß nicht. Daraufhin wartete der Offizier geduldig, bis der Chassid sein Gebet beendet hatte, und sagte zu ihm: »Du bist zu nichts zu gebrauchen (Du bist leer).«

Er machte dem frommen Mann deutlich, dass er sich in Gefahr gebracht habe, schließlich hätte er ihn töten können. Und der Offizier fügte hinzu: »Heißt es nicht in eurer Tora: ›Nur hüte dich und bewahre deine Seele‹ (5. Buch Mose 4,9), und ferner steht geschrieben: ›Hütet euch sehr für eure Seelen‹ (4,15)? Warum hast du, nachdem ich dich gegrüßt habe, mir nicht den Gruß erwidert?« Er hätte ihm mit dem Schwert den Kopf abschlagen können – und wer, fragte der Offizier, würde ihn für das vergossene Blut zur Rechenschaft ziehen?

Darauf sagte der fromme Mann, dass er ihn mit seinen Worten besänftigen wolle. Und er stellte dem Offizier die Frage: »Wenn du vor einem König aus Fleisch und Blut gestanden hättest und dein Freund käme und grüßte dich, würdest du seinen Gruß erwidern?« Der Offizier antwortete: »Nein.« Der fromme Mann fragte weiter: »Was würde man dir tun?« Der Offizier sagte: »Man würde mir mein Haupt mit einem Schwert abschlagen.«

Bei einem Gebet geht es nicht darum, irgendwelche Wörter schnell durchzulesen oder Lippenbekenntnisse abzugeben.

Für den frommen Mann war das eine umso zwingendere Schlussfolgerung – mit der man vom Leichteren auf das Schwerere folgern kann: »Wenn du vor einem König aus Fleisch und Blut stündest, der heute hier und morgen im Grabe ist, würdest du so verfahren. Um wie viel mehr gilt das für mich«, so der Chassid weiter, »der ich vor dem König aller Könige, vor dem Heiligen, gepriesen sei Er, der ja in alle Ewigkeit lebend und bestehend ist, gestanden habe.« Der Offizier ließ sich daraufhin besänftigen, und der fromme Mann kehrte in Frieden nach Hause zurück.

So weit diese Geschichte. Die Kommentatoren diskutieren nun, ob der fromme Mann eine Sünde begangen hat, weil er sich nicht an die Halacha, das Religionsgesetz, gehalten hat, dem zufolge man bei Lebensgefahr das eigene Gebet unterbrechen soll. Eine Meinung sagt, dass der Talmud ihn nicht umsonst als einen »Chassid« bezeichnet. Denn er war so fromm und von der körperlichen Welt entfernt, dass er nichts um sich herum bemerkte, während er in sein Gebet versunken war. Und obwohl die gängige Halacha lautet, dass man in Anbetracht einer aufkommenden Gefahr sein Gebet unterbrechen soll, um sein Leben zu retten, können wir aus dieser Diskussion und Geschichte für uns entnehmen, wie wichtig das Gebet ist.

Denn bei einem Gebet geht es nicht darum, irgendwelche Wörter schnell durchzulesen oder Lippenbekenntnisse abzugeben. Vielmehr ist ein Gebet eine einzigartige Audienz beim König aller Könige, der uns die Möglichkeit gibt, ihm unsere innigsten Anliegen und größten Sorgen zu schildern. Dementsprechend sollte ein Gebet betrachtet, begangen und bewertet werden. Es ist ein unbezahlbares Geschenk, das uns von Gʼtt gegeben wurde – und keine Last, die wir dreimal am Tag erdulden müssen.

Lech Lecha

Im Sinne der Gerechtigkeit

Awraham war der Erste in der Menschheitsgeschichte, der gegen das Böse aufstand

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  31.10.2025

Geschichte

Wer war Kyros der Große?

Manche behaupten, Donald Trump sei wie der persische Herrscher, der den Juden die Rückkehr nach Jerusalem erlaubte. Was hinter dem Vergleich steckt

von Rabbiner Raphael Evers  30.10.2025

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 29.10.2025

Vatikan

Papst bedauert Krise im Dialog mit Juden - verurteilt Antisemitismus

Seit Jahren ist der Dialog des Vatikans mit dem Judentum belastet. Nun hat Leo XIV. versucht, die Dinge klarzustellen - mit einem Bekenntnis zum Dialog und gegen den Antisemitismus

von Ludwig Ring-Eifel  29.10.2025

Schwielowsee

Shlomo Afanasev ist erster orthodoxer Militärrabbiner für Berlin und Brandenburg

Militärrabbiner gibt es bereits in Deutschland. Nun steigt der erste orthodoxe Rabbiner bei der Bundeswehr in Brandenburg ein

 29.10.2025

Rom

Eklat durch NS-Vergleich bei interreligiösem Kongress

Der Dialog zwischen katholischer Kirche und Judentum ist heikel. Wie schwierig das Gespräch sein kann, wurde jetzt bei einem Kongress in Rom schlagartig deutlich. Jüdische Vertreter sprachen von einem Tiefpunkt

von Ludwig Ring-Eifel  27.10.2025

Talmudisches

Das Schicksal der Berurja

Die rätselhafte Geschichte einer Frau zwischen Märtyrertum und Missverständnis

von Yizhak Ahren  24.10.2025

Schöpfung

Glauben Juden an Dinosaurier?

Der Fund der ersten Urzeitskelette stellte auch jüdische Gelehrte vor Fragen. Doch sie fanden Lösungen, das Alter der Knochen mit der Zeitrechnung der Tora zu vereinen

von Rabbiner Dovid Gernetz  23.10.2025

Noach

Ein neuer Garten Eden

Nach der Flut beginnt das Pflanzen: Wie Noachs Garten zum Symbol für Hoffnung und Verantwortung wurde

von Isaac Cowhey  23.10.2025