Im Babylonischen Talmud (Berachot 32b) wird eine Passage aus der Mischna diskutiert, in der es darum geht, dass man sein Gebet nicht unterbrechen soll: »Selbst wenn einen der König grüßt, erwidere man ihm nicht« (30b).
Die Frage ist, ob dabei ausschließlich ein jüdischer König gemeint ist, der gegenüber dem Betenden Verständnis aufbringen würde. Bei einem anderen König hätte das Nichterwidern seines Grußes zu schwerwiegenden Konsequenzen bis hin zur Todesstrafe führen können.
Mitten in dieser Diskussion bringt der Talmud die Geschichte eines frommen Mannes (Chassid), der auf einer Reise betete, als ein Offizier (Hegmon) auf ihn zukam und ihn grüßte. Der fromme Mann setzte sein Gebet fort und erwiderte den Gruß nicht. Daraufhin wartete der Offizier geduldig, bis der Chassid sein Gebet beendet hatte, und sagte zu ihm: »Du bist zu nichts zu gebrauchen (Du bist leer).«
Er machte dem frommen Mann deutlich, dass er sich in Gefahr gebracht habe, schließlich hätte er ihn töten können. Und der Offizier fügte hinzu: »Heißt es nicht in eurer Tora: ›Nur hüte dich und bewahre deine Seele‹ (5. Buch Mose 4,9), und ferner steht geschrieben: ›Hütet euch sehr für eure Seelen‹ (4,15)? Warum hast du, nachdem ich dich gegrüßt habe, mir nicht den Gruß erwidert?« Er hätte ihm mit dem Schwert den Kopf abschlagen können – und wer, fragte der Offizier, würde ihn für das vergossene Blut zur Rechenschaft ziehen?
Darauf sagte der fromme Mann, dass er ihn mit seinen Worten besänftigen wolle. Und er stellte dem Offizier die Frage: »Wenn du vor einem König aus Fleisch und Blut gestanden hättest und dein Freund käme und grüßte dich, würdest du seinen Gruß erwidern?« Der Offizier antwortete: »Nein.« Der fromme Mann fragte weiter: »Was würde man dir tun?« Der Offizier sagte: »Man würde mir mein Haupt mit einem Schwert abschlagen.«
Bei einem Gebet geht es nicht darum, irgendwelche Wörter schnell durchzulesen oder Lippenbekenntnisse abzugeben.
Für den frommen Mann war das eine umso zwingendere Schlussfolgerung – mit der man vom Leichteren auf das Schwerere folgern kann: »Wenn du vor einem König aus Fleisch und Blut stündest, der heute hier und morgen im Grabe ist, würdest du so verfahren. Um wie viel mehr gilt das für mich«, so der Chassid weiter, »der ich vor dem König aller Könige, vor dem Heiligen, gepriesen sei Er, der ja in alle Ewigkeit lebend und bestehend ist, gestanden habe.« Der Offizier ließ sich daraufhin besänftigen, und der fromme Mann kehrte in Frieden nach Hause zurück.
So weit diese Geschichte. Die Kommentatoren diskutieren nun, ob der fromme Mann eine Sünde begangen hat, weil er sich nicht an die Halacha, das Religionsgesetz, gehalten hat, dem zufolge man bei Lebensgefahr das eigene Gebet unterbrechen soll. Eine Meinung sagt, dass der Talmud ihn nicht umsonst als einen »Chassid« bezeichnet. Denn er war so fromm und von der körperlichen Welt entfernt, dass er nichts um sich herum bemerkte, während er in sein Gebet versunken war. Und obwohl die gängige Halacha lautet, dass man in Anbetracht einer aufkommenden Gefahr sein Gebet unterbrechen soll, um sein Leben zu retten, können wir aus dieser Diskussion und Geschichte für uns entnehmen, wie wichtig das Gebet ist.
Denn bei einem Gebet geht es nicht darum, irgendwelche Wörter schnell durchzulesen oder Lippenbekenntnisse abzugeben. Vielmehr ist ein Gebet eine einzigartige Audienz beim König aller Könige, der uns die Möglichkeit gibt, ihm unsere innigsten Anliegen und größten Sorgen zu schildern. Dementsprechend sollte ein Gebet betrachtet, begangen und bewertet werden. Es ist ein unbezahlbares Geschenk, das uns von Gʼtt gegeben wurde – und keine Last, die wir dreimal am Tag erdulden müssen.
 
			
			
			 
			 
			 
			 
			 
			 
			 
			 
			 
			