Die Geschichte meiner Sammlung jüdischer Kopfbedeckungen begann womöglich damit, dass ich selbst seit früher Jugend Kippot in unterschiedlichster Form und Farbe trage. Daraufhin fingen Freunde wie Fremde an, mir welche zu schenken, weshalb sich in meinen Schubladen oder Regalen mittlerweile einige Hundert von Kippot und Hüten finden, die aus verschiedenen Epochen oder Herkunftsländern stammen. Sie alle spiegeln die Vielfalt unserer Kultur wider. Und passend zu diesen geschenkten Kopfbedeckungen wurden mir die Lebenswege manch ihrer Träger erzählt.
Zu jedem jüdischen Ritualgegenstand, egal ob aus Silber, Messing oder Wolle, gehören die Geschichten seiner Hersteller und Besitzer. Persönlich entdeckte ich schnell die Faszination, die von rituellen oder religiösen Kleidungsstücken ausgehen kann, beispielsweise von traditionellen italienischen Tallitot aus Seide. Von kleinen Batim, den kubusförmigen Gehäusen für Tefillin, heißt es, dass man aus kabbalistischer Motivation heraus zwei gleichzeitig auf dem Kopf tragen kann.
Beeindruckend können aber auch chassidische Gewänder wie eine reich verzierte rebbische Bekische sein, eine farbige florale Robe für einen Rabbiner am Schabbat und Jom Tow, deren schwarze Samtstreifen auf Brust und Ärmeln an die Tefillin erinnern sollen. Sie dürfen nur werktags getragen werden, doch durch diesen Brauch können sie symbolisch am Körper behalten werden.
Sittsamkeit bewahren
Um die Mizwot zu erfüllen, werden alle diese Objekte am Leib getragen, um das Jüdischsein ihres Trägers auszudrücken oder Sittsamkeit zu bewahren. Mitunter werden sie der jeweiligen Körperform angepasst oder beim Tragen durch diesen verändert und mit der Zeit verschlissen. Näher könnte uns ein Objekt also kaum sein. Vielleicht denke ich deshalb beim Anblick eines jüdischen Kleidungsstücks an die Geschichte seines Trägers.
So ist es auch beim Kolpik in meiner Sammlung. Dabei handelt es sich um eine aus braunem Fell umwickelte religiöse Kopfbedeckung. Er ist quasi der fast vergessene Cousin des wesentlich bekannteren Strejmel, dessen Umrandung aus den Schwänzen mehrerer Pelztiere zusammengesetzt wird. Der Kolpik hat sich noch bei einigen chassidischen Gruppen ungarischen und galizischen Ursprungs erhalten, wird aber nur vom Rabbiner und manchmal von dessen Söhnen und Enkeln getragen.
Anders als der Strejmel trägt der Rabbi den Kolpik nicht am Schabbat oder an bedeutenden Feiertagen, sondern anlässlich einer Festmahlzeit zu Tu Bischwat oder an Chanukka, also an kleinen Feiertagen. Die noch unverheirateten Söhne und Enkel des Rebben tragen den Kolpik hingegen am Schabbat und Jom Tow. Der Husaren-Kolpak mag modisches Vorbild des Kolpiks sein – doch ist seine Relevanz als Kopfbedeckung im chassidischen wie auch jüdischen Kontext deutlich größer.
In Brooklyn wurde Srulik Munkatscher Chassid und trug seinen Kolpik mit Stolz.
Den Namen, Sprache und Aussehen, insbesondere des Kopfes, benennt Rabbiner Moses Schreiber (1762–1839), der Chatam Sofer, als wichtige Aspekte, um das Judentum durch alle Zeiten hinweg zu bewahren. Eine Kopfbedeckung im religiösen Zusammenhang geht übrigens bereits auf Aharon zurück, der die Mitznefet als heilige Wickelkopfbedeckung trug. Nach ihm trug sie jeder Kohen Gadol, während einfache Kohanim eine hutartige Migba’at besaßen. Im Talmud trägt dann Rav Huna stets eine Kopfbedeckung und wird so zum Vorbild des Kippatragens im Alltag.
Für besondere Tage eine herausragende Kopfbedeckung
Wenn man aber rund um die Uhr eine Kopfbedeckung trägt, braucht es für besondere Tage eine herausragende. Im Chassidismus sind es Pelzhüte wie der bereits erwähnte Kolpik, der von vielen Rebben als Keter, zu Deutsch »Krone«, bezeichnet wird, die die Herrschaft Gʼttes ehrt. Bis zu dessen Tod im Jahr 2018 war der Kolpik, den ich nun sorgsam aufbewahre, im Besitz eines Mannes, der diese chassidische Krone erst in der zweiten Hälfte seines beinahe 100-jährigen Lebens trug.
Die Rede ist von Srulik sel. A., Koseform von Jissroel. Er war 26 Jahre alt, als seine Heimatstadt Budapest von den Deutschen besetzt wurde. Ich weiß nicht, was seine erste Reaktion darauf gewesen sein mag – ob er Angst hatte, noch ahnungslos war oder einfach damals seinen schwierigen Alltag meisterte. Er stammte aus einer größeren armen Familie mit sieben Kindern. Oder zumindest aus einer Familie, die sich nicht Größeres oder gar Bedeutendes leisten konnte – so jedenfalls begann er meines Wissens nach stets, die Geschichte seines Lebens zu erzählen.
Ich habe diese Lebensgeschichte nie vollständig gehört. Srulik existiert für mich nur in erzählten Fragmenten, kurzen Schlaglichtern auf ein Jahrhundert Menschenleben. Ich weiß nicht einmal, wie und wann genau er mit vier seiner Geschwister New York erreichte. Niemand hat es mir je richtig erzählen können. Die meisten seiner entfernteren Verwandten kannten ihn bloß von wenigen Telefonaten, nur wenige Familienmitglieder aus seiner Generation hatten ihn über die Jahrzehnte hinweg ab und zu besucht. Dabei wohnten sie oftmals in derselben Nachbarschaft in Brooklyn. Srulik lebte zunächst mit seiner Frau Henny zusammen, nach ihrem Tod in den 70er-Jahren ganz allein. Auch sie stammte aus Ungarn, allerdings nicht aus Budapest, sondern aus einem Ort namens Munkatsch.
Schicke Anzüge und edle pelzbesetzte Kleidung
Srulik hatte seinen Kindern und Enkeln immer wieder erzählt, wie sehr er als Kind die wohlhabenden Budapester – Juden wie Nichtjuden – bewundert hatte, wenn sie in schicken Anzügen und edler pelzbesetzter Kleidung über die Straßen flanierten. Er konnte anderen auch Jahrzehnte später noch die Mäntel, Stolen, Handschuhe, Kopfbedeckungen und sogar Gamaschen en détail beschreiben. Ein richtiger Pelzmantel oder feiertägliche Pelzhüte wie ein edler Strejmel oder Kolpik waren für seine Familienmitglieder damals unerschwinglich. Aber solche Kopfbedeckungen finden sich ohnehin nur im chassidischen Judentum, und seine Familie war traditionell orthodox.
Schon als Jugendlicher hat Srulik erst in Budapest und später in Amerika hart gearbeitet, weil er denen gleich sein wollte, die er schon als Kind so bewundert hatte. Menschen, die nie hungern mussten, keinen Verzicht kannten. Ihm gelang der soziale Aufstieg. Bald besaß er mehrere Geschäfte, auch wenn ich mich nicht mehr daran erinnere, was er dort verkaufte.
Ich weiß nur, dass es nichts mit seinen beiden großen Leidenschaften zu tun hatte, und zwar Pelzen und Büchern auf Hebräisch, Jiddisch, Ungarisch, Deutsch und später auch auf Englisch. Nie erwarb er Neuware, sondern stets schon getragene Kleidungsstücke und gelesene Bücher. So, als ob an den gebrauchten Dingen etwas vom Wohlstand, dem Chic oder der Bildung ihrer Vorbesitzer aus der Alten oder Neuen Welt haften blieb, das man sich dann statt der Objekte selbst zu eigen machen wollte. Oder so, als könnte man mit diesen Fragmenten die Vorstellung einer besseren Welt konservieren.
Näher als ein Kleidungsstück könnte uns wohl kein anderes Objekt sein.
Srulik sprach gern über seine Sammelleidenschaft, die wohl mehrere Räume ausfüllte. Außerdem schwärmte er von der schönsten Metropole der Welt: dem Budapest der Vorkriegszeit. Nach dem Krieg hatte er Ungarn aber nie wieder betreten und ignorierte die Existenz all dessen, was die ersten 20 Jahre seines Lebens seine Heimat gewesen war. Nie redete Srulik über die Schoa oder seine Zeit in einem DP-Camp. Auch weigerte er sich zu erzählen, wie und wo er seine Frau Henny kennengelernt hatte, warum sie keine Verwandten mehr hatte oder wie er sich von seinen Eltern und zwei seiner Geschwister trennen musste.
Erinnerung an das alte Budapest in Pelzen und Büchern
Srulik pflegte die Erinnerung an das alte Budapest in seinen Pelzen und Büchern. Nach dem Tod seiner Frau arbeitete er nur noch in seinen Geschäften. Mit dem Alter und wachsendem Wohlstand war seine Angst vor einem sozialen Abstieg größer statt kleiner geworden. Auch schloss er sich den Munkatscher Chassidim an. Für seine Familie war das eine Überraschung, galt Srulik doch eher als traditioneller Jude. Erst Jahre später gestand er seinen Kindern, dass ihre Mutter ihm zuliebe den Chassidismus aufgegeben hatte. Er passte für ihn nicht ins moderne Amerika.
Doch auf ihrem Sterbebett habe Henny ihn gebeten, den Rest seines Lebens in den Traditionen ihrer Munkatscher Familie zu leben, und zwar als »Tikkun«, einer Art Wiedergutmachung dafür, dass Srulik seine Familie nicht hat chassidisch leben lassen. Aus Liebe zu seiner Frau und aufgrund seines fortgeschrittenen Alters nahm Srulik den Weg in den Chassidismus und an den Hof des Munkatscher Rebben in Brooklyn sehr ernst und wurde zu einem seiner treuen Anhänger. Und der schenkte ihm als Dank für seine Wohltätigkeit einen Kolpik. Er hatte gewusst, was Srulik eine solche Krone aus Pelz bedeuten würde.
Wie ich hörte, trug Srulik seinen Kolpik mit Stolz und in Dankbarkeit. Am Ende seines Lebens gab es kaum noch Menschen, die Srulik von früher kannten. Die ältesten Fotos, die ich von ihm gesehen habe, waren bereits aus den 80er-Jahren, als er gerade anfing, chassidisch zu leben, und sich entsprechend kleidete. Keines seiner Kinder und Enkel folgte ihm. Sie sind modern-orthodox, konservativ oder säkular. Eines von ihnen vertraute mir Sruliks Kolpik an.
Auf Basis dessen, was ich über Srulik erfuhr, bin ich mir sicher, dass er über einen enorm reichen Schatz an Erfahrungen verfügte, ein Mensch aus drei Welten mit drei Leben, die sich so in keinem Buch wiederfinden – aber in Form eines edlen Kolpiks. Dieser ist ein kostbares Stück Erinnerung aus Nähe und Unerreichbarkeit. Jeder Ritualgegenstand ist ein solches Andenken an eine individuelle und an unsere Geschichte als Juden.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg und des Leo-Trepp-Lehrhauses.