Schabbat

Alles ist zu schaffen

Es ist G’tt ein Leichtes, uns alle Werkzeuge zu geben, die wir benötigen, um jeder Situation gewachsen zu sein. Foto: Thinkstock, Montage: Tal Griffit

Unser Wochenabschnitt beginnt mit dem Vers: »Und der Ewige sprach zu Mosche: Geh zum Pharao, denn ich habe sein Herz und das Herz seiner Diener verstockt, damit ich tue diese meine Zeichen in seinem Inneren« (2. Buch Mose 10,1).

Wir fragen uns sofort: Und was ist mit dem freien Willen? Direktes g’ttliches Eingreifen in die Entscheidungen eines Menschen – sollte der freie Wille nicht unantastbar sein?

Es gibt dazu viele Erklärungen. Einige Kommentatoren meinen, dass Pharao sehr wohl seinen freien Willen hatte – doch nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt. Haschem ließ ihn entscheiden und griff erst danach ein, um alle seine Wunder vollbringen zu können. Andere meinen, Haschem habe nur in die körperliche Widerstandskraft des Pharaos eingegriffen, sodass der freie Wille mehr oder weniger noch bestand. Ande­re wiederum diskutieren, wie g‘ttliches Eingreifen die Möglichkeit zur Reue verhindert.
Die Frage, die jedoch ebenfalls beim ge­nauen Lesen auftaucht, ist: Wie erklärt Haschem Seine Anweisung, Mosche solle zum Pharao gehen, da Er dessen »Herz und das Herz seiner Diener verhärtet« hat.

Eine Satzstruktur wie »Geh zum Pharao, damit ich mein Volk befreien kann!« würde viel mehr Sinn ergeben. Was also möchte Haschem mit seinen Worten sagen?

gruselkabinett Der New Yorker Rabbiner Mordechai Ka­menetzky erzählt da­zu von einer Begebenheit, die einem seiner Freunde widerfuhr: Vor vielen Jahren besuchte er einen Freizeitpark. Dort gab es sehr viele Attraktionen, darunter auch ein Gruselkabinett. Es war sehr dunkel, und es gab viele Monster und andere angsteinflößende Figuren.

Vor dem Kabinett hing eine schriftliche Warnung. Personen unter zwölf Jahren, un­ter einer gewissen Größe, Menschen mit Blutdruckproblemen oder Herzkrankheiten wurde vom Besuch des Gruselkabinetts deutlich abgeraten.

Nachdem der Mann diese Warnung gelesen hatte, lotste er seine Familie schnell an diesem Ort vorbei. Er sah, wer sich dort anstellte: tätowierte Motorradfahrer und andere kräftige Männer und Frauen. Doch plötzlich bemerkte er unter all diesen Leuten einen kleinen Jungen, der höchstens sieben Jahre alt war. Der Junge lachte, als ob es eine ganz normale Achterbahn wäre.

Der Mann konnte nicht einfach an dem Kind vorbeigehen. Vielleicht wusste der Junge ja gar nicht, wo er sich hier eigentlich anstellte. Also sprach der Mann ihn an: »Hast du das gelesen? Das ist ein unheimlicher Raum, und du bist ja noch nicht einmal zehn!«

Der Junge lachte nur und fragte: »Warum sollte ich Angst haben?« – »Warum du Angst haben solltest? Hier erlebst du die gruseligste Fahrt im ganzen Park! Es ist stockdunkel, und du kannst absolut nichts sehen – außer den Monstern!«

Doch der Junge grinste und erklärte, warum er so mutig sei. »Siehst du den Mann dort?« Er zeigte auf jemanden, der sich im Kontrollraum mit den vielen Schaltern befand. »Das ist mein Vater. Wenn ich nur einmal schreie, betätigt er einen Schalter. Dann geht das Licht sofort an, und all die Monster werden zu Plastikfiguren.«

kontrolle Ähnlich ist es bei Mosche und dem Pharao. Haschem hat die Kontrolle über alles, erklärt Rabbiner Yechiel Meir Lifschutz (1816–1888). Die Reaktion des Pharaos spielt keine Rolle, sie ist vollkommen bedeutungslos. »Ich habe sein Herz und das Herz seiner Diener verhärtet« heißt: Ich, G’tt, bin derjenige, der die Kontrolle hat, Ich bin derjenige, der Herzen erhärtet, und Ich bin es, der Tyrannen dazu bringt, dich aus ihrem Palast zu verjagen.

Haschem ist sozusagen unser Vater im Himmel, der am Schalter sitzt und ihn jederzeit betätigen kann. Seine Möglichkeiten sind grenzenlos.

Einige Generationen vor Mosche gab es eine Begegnung zwischen einem Vorgänger des Pharaos und Josef. Ein Midrasch erklärt, es sei im damaligen Ägypten üblich gewesen, dass derjenige zum Pharao ernannt wurde, der die meisten Sprachen beherrschte.

Zum Thron des Pharaos führten 70 Stufen hinauf, welche die 70 Sprachen der Völker symbolisierten. Wollte jemand mit dem Pharao sprechen, so stieg er so viele Stufen hinauf, wie er Sprachen beherrschte. Ganz oben saß der Pharao, der alle 70 sprach.

Jeder, der mehr Sprachen beherrschte als ein anderer, war näher am Pharao, galt als wichtiger und wurde stärker respektiert als jemand, der weniger Sprachen beherrschte.

Als es für Josef an der Zeit war, sich mit dem Pharao zu treffen, kannte er bei Weitem nicht genügend Sprachen, um in Ägypten als jemand Wichtiges zu gelten. Also sandte Haschem einen Engel, der Josef im Traum alle 70 Sprachen beibringen sollte.

Da dies anfangs nicht gelang, fügte Haschem dem Namen Josefs den hebräischen Buchstaben »Hej« hinzu, der ebenfalls der Buchstabe von Haschem ist, und machte aus Josef »Jehosef«. Daraufhin erlernte Josef sofort alle 70 Sprachen und war zum Treffen mit dem Pharao am nächsten Morgen bereit.

werkzeuge Wir lernen aus diesem Mi­drasch, dass Haschems Möglichkeiten nicht darauf beschränkt sind, ins Leben unserer Feinde einzugreifen. Seine Möglichkeiten sind grenzenlos. So wie er unsere Feinde entmachten und ihre Herzen verhärten kann, so ist es ein Leichtes für ihn, uns zu ermächtigen und uns alle Werkzeuge zu geben, die wir benötigen, um jeder Situation gewachsen zu sein.

So wie Haschem dem Namen Josefs den Buchstaben »Hej« hinzufügte, so gibt er auch uns jeden Tag die Werkzeuge, die wir benötigen, um mit allen Herausforderungen fertig zu werden. Haschem ist derjenige, der die komplette Kontrolle über alles hat, und Er gibt uns niemals eine Aufgabe, der wir nicht gewachsen sind.

Rabbiner Mordechai Kamenetzky lehrt: Wir können unsere täglichen Herausforderungen mit einem Gefühl von Sicherheit antreten, wenn wir wissen, dass es eine höhere Instanz gibt, die unseren Lebensalltag steuert. Ja, wenn wir uns dessen bewusst sind, dass der Schöpfer »am Schalter sitzt«, dann können wir mit einer inneren Gewissheit sogar den Palast eines Pharaos betreten.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.


inhalt

Der Wochenabschnitt Bo schildert die letzten Plagen, mit denen G’tt die Ägypter heimsucht: Das sind zunächst Heuschrecken und Dunkelheit, dann kündigen Mosche und Aharon die Tötung aller ägyptischen Erstgeborenen an. Doch das Herz des Pharaos bleibt weiter hart. Die Tora schildert die Vorbereitungen für das Pessachfest und beschreibt dann die letzte Plage: Alle Erstgeborenen Ägyptens sterben, doch die Kinder Israels bleiben verschont. Nun endlich lässt der Pharao die Israeliten ziehen. Zum Abschluss schildert der Wochenabschnitt erneut die Vorschriften für Pessach und die Pflicht zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten.
2. Buch Mose 10,1 – 13,16

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