Sukkot

Allein in der Hütte

Geselligkeit ist ein Gebot an Sukkot. Doch derzeit ist es besser, wenn möglichst wenige Menschen zusammenkommen; hier eine Frankfurter Straßenszene mit »Fahrrad-Sukka« Foto: Rafael Herlich

Über Rabbi Pinchas Schapira von Kuritz, einen Schüler des Maggid von Mesritsch, wird erzählt, dass er eine besondere Anziehungskraft auf die Menschen ausübte, sodass er stets von Gesellschaft umgeben war, viele ihn um Rat baten oder einfach nur seine Nähe suchten.

So fand Rabbi Pinchas nur sehr wenig Zeit für sich selbst und merkte, dass sein Torastudium dabei zu kurz kam. Eines Tages wurde ihm der Rummel derart lästig, dass er aus tiefstem Herzen zu G’tt aufrief: »Bitte nimm diese Gabe von mir! Ich möchte mich wieder in Ruhe mit der Tora beschäftigen können!«

Rabbi Pinchas’ Gebete wurden erhört: Er verlor seine besondere Gunst, und die Leute hörten auf, ihn aufzusuchen und zu belästigen. So konnte er sich von nun an in Ruhe dem Studium der heiligen Schriften widmen.

GAST Das Laubhüttenfest nahte, und Rabbi Pinchas begab sich wie üblich in die Sukka, um das Fest in gewohnter Weise zu feiern. Doch die Stimmung in der Hütte war bedrückend. Wo sich die Jahre zuvor die Gäste gedrängt hatten, um mit dem heiligen Mann zusammen die Lichter des Himmels einzufangen, saß er nun ganz allein da.

Wer sein Haus verschließt, erlebt keine heilige Freude, sondern nur »Freude des Magens«.

Da wurde er plötzlich einer Gestalt gewahr, die am Eingang der Sukka verharrte. Ein strahlendes Leuchten überzog das Gesicht von Reb Pinchas: Es war niemand anderes als unser Vorvater Awraham, der am ersten Tag des Festes die Laubhütten als besonderer Gast aufsucht.

»Oh, Vater Awraham, trete doch ein in meine bescheidene Sukka«, drang Rabbi Pinchas in ihn. Doch Awraham rührte sich nicht vom Fleck: »Wo meine Kinder nicht willkommen sind, da will auch ich nicht verweilen«, gab er zurück.

Reb Pinchas verstand seinen Irrtum. Mit nicht weniger Inbrunst als beim ersten Gebet erhob er seine Stimme und bat G’tt darum, ihm seine besondere Gabe wieder zu gewähren. Das Gebet wurde erhört, und kurze Zeit später war er wieder Magnet, und die Leute scharten sich um ihn.

Die Sukka war wie ehedem überfüllt, die Menschen standen dicht an dicht, um sich dem Rebben nähern zu können, und mittendrin saß Rabbi Pinchas. Dieses Jahr kam es manch einem so vor, dass er eine besondere Glückseligkeit ausstrahlte. Und da, mitten unter den dicht gedrängten Gästen, konnte Reb Pinchas ihn sehen: unseren Vorvater Awraham – und auch ihm war eine besondere Zufriedenheit anzumerken.

USCHPISIN Eines der Merkmale des Laubhüttenfestes sind die Uschpisin, die speziellen Gäste aus den Reihen unserer Vorväter und Former des Volkes Israel, die uns laut Tradition täglich an den sieben Tagen des Festes besuchen kommen.

Gleichzeitig steht dies auch symbolisch für die Wichtigkeit, tatsächlich physische Gäste – nicht aus der Vergangenheit, sondern gegenwärtige – zu sich in die Sukka einzuladen, denn es soll ein geselliges Fest sein.

Der Gedanke, physisch Gäste, insbesondere Bedürftige, einzuladen, findet sich bereits in der Tora: »Freue dich an deinem Fest (Laubhüttenfest), du, dein Sohn, deine Tochter …, der Fremde, der Waise und die Witwe, die in deinen Toren verweilen« (5. Buch Mose 16,14).

Die Freude des Festes entspringt direkt der Freude des Einholens der Ernte.

Maimonides, der Rambam, führt dazu aus, dass die Freude an Feiertagen, wenn man das Haus verschließt und nur mit der eigenen Familie feiert, nicht der Freude entspricht, von der die Tora spricht. Es ist keine erhebende und heilige Freude, sondern die bloße »Freude des Magens«, eine sehr niedrige und vergängliche Form der Freude (Hilchot Schewitat Jom Tov 6,18).

Warum hebt die Tora dies besonders am Laubhüttenfest hervor, obwohl die vom Rambam angeführte Grundregel auf alle Feiertage zutrifft?
Das Laubhüttenfest findet im Herbst statt, die Zeit, zu der die Ernte des Sommers fertig eingesammelt und in den Lagerhäusern untergebracht ist.

So betont die Tora im dem oben zitierten vorangehenden Vers: »Ein Fest der Laubhütten mache dir sieben Tage, wenn du von den Tennen (die Ernte) und von den Keltern (den Wein) eingeholt hast. Und freue dich an deinem Fest« (16,13).

WOHLSTAND Die Freude des Festes entspringt direkt der Freude des Einholens der Ernte und des offensichtlichen Wohlstands zu diesem Zeitpunkt. Es ist ähnlich wie zu Beginn des Monats, wenn der Eingang des Gehalts meist Freude hervorruft – doch mit dem Unterschied, dass an Sukkot quasi das Jahresgehalt ausgezahlt wird.

Diese Freude ist erst dann eine erhabene und wahrhafte, wenn sie mit anderen geteilt wird, insbesondere den Verbitterten und Bedürftigen der Gesellschaft, die sonst nicht daran teilhaben, da sie keine eigene Ernte einbringen können.

Nach der Halacha reichen drei Wände für eine Sukka, laut dem Talmud sogar nur zweieinhalb.

Einen Hinweis auf diese Besonderheit der Laubhütten finden wir direkt in ihren speziellen Vorschriften. Normalerweise ist ein »Reschut jachid«, ein Privatbereich, religionsgesetzlich durch das Vorhandensein von vier intakten Wänden definiert, beispielsweise wenn es um die Definition am Schabbat geht, in welchem Bereich etwas getragen werden darf und in welchem nicht.

BUCHSTABEN Doch für die halachisch korrekte Gültigkeit einer Laubhütte reichen drei Wände, laut dem Talmud sogar zweieinhalb – mit Öffnung dazwischen. Angedeutet wird dies durch die hebräischen Buchstaben, mit denen das Wort »Sukka« – Laubhütte – geschrieben wird: Das Samech (»S«) wird von allen vier Seiten umrandet, das darauffolgende Kaf (»K«) ist nur noch von drei Seiten umgeben, und das Hej (»H«) am Ende des Wortes hat nur zweieinhalb Seiten aufzuweisen.

Möchte uns die Halacha nicht darauf hinweisen, dass eine intakte Sukka auch aus nur drei Wänden bestehen kann, um mit der weit geöffneten vierten Seite eine offene Einladung an alle Vorbeikommenden zu implizieren, ähnlich wie das Zelt unseres Vorvaters Awraham, das von allen vier Himmelsrichtungen Eingänge aufwies, um für Gäste und Fremde möglichst einladend zu wirken?

HÖHE Darüber hinaus ergibt sich eine weitere Regel für die Laubhütte auf höchst bemerkenswerte Weise: Unsere Weisen legen fest, dass es wohl eine maximale Höhe für eine Sukka gibt, nicht aber für deren Länge und Breite, obwohl eigentlich gefordert ist, dass sie einen temporären Charakter aufweisen soll.

Diese Regel entstammt dem kleinen Umstand, dass das Wort »Sukkot« in der Tora an manchen Stellen ohne den eigentlich notwendigen Buchstaben Waw geschrieben steht und somit auch als »Sukkat« – Einzahl von »Sukkot« – gelesen werden kann.

Somit kann der Vers »Alle Einwohner Israels sollen in Laubhütten wohnen« (3. Buch Mose 23,42) auch anders gelesen werden: »… sollen in einer Laubhütte wohnen« – also alle zusammen in einer einzigen Laubhütte! Dies ist natürlich nur dann möglich, wenn es sich um eine enorm lange und breite Sukka handelt (Talmud, Sukka 27b).

Wiederum ergibt sich der verbindende Leitfaden: Es geht darum, das Fest gemeinsam zu begehen, eingebunden in das Gemeinschaftsgefühl beim gemeinsamen Verweilen in der Laubhütte.

Bei regnerischem Wetter ist ein angenehmer Aufenthalt in einer Sukka nicht garantiert.

Allgemein ist es nicht leicht, in Europa diese Anleitung umzusetzen, da es nicht überall möglich ist, eine Laubhütte zu errichten. In vielen Gemeinden werden deshalb Gemeinde-Sukkot aufgebaut und zur Verfügung gestellt, sodass jeder, der möchte, auch in einer Sukka essen kann.

Dazu kommt noch die Schwierigkeit, dass das Wetter nicht immer dem einladenden Charakter der Feiertage Folge leistet und einen angenehmen Aufenthalt in den durch das S’chach, das natürliche und nicht vollständig abdichtende Dach, bedeckten Hütten garantieren wird.

ATMOSPHÄRE In Israel hingegen umgibt die Sukkot-Tage eine spezielle Atmosphäre, da überall auf Straßen, in den Gärten und auch an öffentlichen Plätzen Laubhütten aufgestellt sind, in denen sich in der mediterranen Herbstsonne wunderbar verweilen lässt.

In Israel und auch vielerorts in Europa wird dieses Jahr wegen der Corona-Pandemie ein anderes Bild vorherrschen. Obwohl die Hütten an freier Luft stehen müssen, drängt man sich oft recht dicht in ihnen und wird zur Mahlzeit die Maske abnehmen müssen. Da gilt es diesmal leider, besondere Vorsicht walten zu lassen.

Umso mehr hoffen wir darauf, im kommenden Jahr dieses Fest wieder und besonders in der ihm zugedachten Atmosphäre feiern zu dürfen – in gemeinsamer Freude!

Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.

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