Lockdown

Allein, aber nicht einsam

Natürlich gibt es das persönliche Gebet, aber eigentlich soll die Tfila in Gemeinschaft stattfinden. Foto: Rafael Herlich

Lockdown

Allein, aber nicht einsam

Das Judentum ist eine Religion der Gemeinschaft. Wie funktioniert das in Zeiten der Pandemie?

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  05.11.2020 08:11 Uhr

Die Gemeinschaft ist Teil des jüdischen Selbstverständnisses. Bereits bei der Erschaffung des Menschen in der Schöpfungsgeschichte heißt es (1. Buch Mose 2,18): »G’tt sprach, es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, Ich will ihm eine Hilfe schaffen, wie sie sich ihm gegenüber eignet.«

Der hebräische Ausdruck »eser ke-negdo«, der leider allzu oft falsch als »Gehilfin« übersetzt wird, hat eben gerade nicht die Bedeutung einer Dienerin oder Untergebenen, sondern einer Partnerin, die für Adam erschaffen werden soll. Das zeigt auch die Übersetzung der zweiten Satzhälfte durch Rabbiner Samson Raphael Hirsch: »wie sie sich ihm gegenüber eignet« – also eine Frau, die ihm ebenbürtig ist und in allen Belangen gleichwertig.

Der Mensch braucht andere Menschen um sich herum, mit denen er sich austauschen kann, die ihm echte Partner sind, die mit ihm die Freuden des Lebens teilen, die ihn aber auch unterstützen und denen er natürlich ebenso hilft und um die er sich kümmert, wenn es notwendig ist. Wir leben und agieren also in Verbindung mit unseren Mitmenschen. Einsamkeit kann verheerende Folgen haben, das stellen bereits unsere Weisen im Talmud fest.

In einer Geschichte über Choni, den Kreiszeichner, heißt es, dass er sogar an Vereinsamung starb (Taanit 23a). Raba stellte daraufhin fest: »Das ist es, was die Leute sagen: entweder Gesellschaft oder den Tod.« Der Mensch ist eben ein sozia-les Wesen.

GEBET Das gilt auch für das Beten. Natürlich gibt es das persönliche Gebet, und im Tanach finden wir dafür viele Beispiele, aber eigentlich soll die Tfila in Gemeinschaft stattfinden. Dafür haben wir den Minjan von mindestens zehn Betern, dafür gibt es bestimmte zentrale Teile des Gebets, oder natürlich auch die Tora-Lesung, die wir ohne Minjan gar nicht beten dürfen.

Ein digitaler Kontakt kann soziales Leben nie ersetzen. Er bleibt ein Trostpflaster.

Der talmudische Weise Reisch Lakisch sagte: »Wer in einer Stadt eine Synagoge hat und nicht in dieser beten geht, wird ein ›böser Nachbar‹ genannt« (Brachot 8a). Die jüdische Religion und ihre Riten und Traditionen insgesamt, nicht nur das Gebet, sind eine kommunale Angelegenheit.

Einen jüdischen Robinson Crusoe kann es daher eigentlich gar nicht geben. Doch was sollen wir machen, wenn wir durch Lockdown, Quarantäne oder aus gesundheitlichen Gründen isoliert zu Hause sein müssen und auch an Schabbat oder den Feiertagen nicht mehr in die Synagoge gehen können?
Zunächst müssen wir versuchen, die Gemeinschaft zu erhalten. Gerade alleinstehende Menschen brauchen jetzt unsere Hilfe.

Wir können für sie einkaufen, Medikamente in der Apotheke besorgen, über Telefon oder ein Videokonferenzprogramm sprechen und sie auch mental unterstützen.

Teilweise können wir unsere Gemeinden digital zu den Menschen »nach Hause bringen«, beispielsweise über ein Online-Angebot von Gebeten, Schiurim, Vorträgen, Feiern, virtuellen Touren, und vieles mehr.
Doch natürlich kann ein kurzzeitiger persönlicher oder digitaler Kontakt nie ein soziales Leben in normalen Zeiten ersetzen. Es ist mehr oder weniger ein Trostpflaster. Menschen, die allein sein müssen, sollten aber nicht resignieren.

HILLEL In Pirkej Awot (1,14) sagt Hillel: »Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich?« Dieser bekannte Spruch sollte allen einsamen Menschen während der Corona-Zeit Mut machen. Wir sollten das Leben in vollen Zügen genießen und jeden Tag für uns mit Sinn füllen, auch wenn wir allein sind.

Wie Hillel sagte, liegt es in erster Linie an uns, selbst für uns zu wirken und zu sorgen und täglich das eigene Wissen und Potenzial zu erweitern sowie den Charakter zu verbessern. Es ist wichtig, dass wir unser Leben mit Dingen füllen, die für uns von Bedeutung sind.

In der Isolation sollten wir nicht warten, bis andere Leute auf uns zukommen, sondern wir sollten aktiv versuchen, so weit wie möglich mit anderen Menschen in Verbindung zu bleiben. Dort, wo es geht, sollten wir spazieren gehen und im Freien andere Menschen – natürlich unter Einhaltung der Regeln und mit entsprechendem Abstand – treffen und uns austauschen.

Einsamkeit kann verheerende Folgen haben, das wussten bereits unsere Weisen.

Wenn es uns nicht erlaubt oder möglich ist, andere Menschen persönlich zu treffen, sollten wir alle Kommunikationsmittel, sei es telefonisch oder digital, nutzen. Die ungewollte Isolation kann vielleicht auch Chance sein: Wir sollten an so vielen digitalen Angeboten wie möglich teilnehmen, die uns Freude machen, und Bücher lesen, die wir schon immer lesen wollten, wozu uns aber die Zeit gefehlt hat, oder wir lernen Tora.

ZIELE Wir sollten uns selbst Ziele setzen und versuchen, diese zu erreichen. Jeder Moment unseres Lebens ist kostbar, auch der, den wir allein verbringen müssen, und wir sollten es in vollen Zügen genießen.

Auch wenn das alles einfacher klingt, als es ist, und die Corona-Zeit sehr herausfordernd ist: Wir sollten auch in dieser Zeit der Unsicherheit erkennen, was G’tt uns jeden Tag gibt, wie viele Möglichkeiten wir trotz allem haben.

Wir müssen nicht auf das Licht am Ende des Tunnels warten. Das Licht ist die ganze Zeit hier bei uns. Es ist vielleicht nicht alles gut, aber hoffentlich doch alles gut genug. Wir sollten das Beste aus dem machen, was uns gegeben wird, im Vertrauen auf G’tt und unsere Mitmenschen.

Der Autor ist Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) und Director Central Europe des Center for Jewish-Christian Understanding and Cooperation (JCUC) in Jerusalem.

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