Neulich beim Kiddusch

Alle sind Freaks – früher oder später

Egal, ob mit oder ohne Spleen: uriger Typ Foto: fotolia

Vor Kurzem ist Herr Jelinek gestorben. Ich weiß nicht, wie alt er geworden ist, ich weiß nur, dass er gerade noch rechtzeitig vor den Nazis in die Schweiz flüchten konnte. Seine Eltern haben hier, wie viele andere, mit Kleidern gehandelt.

Seelenruhe Als ich als kleiner Junge Herrn Jelinek kennenlernte, war er schon ein alter Mann. Er betete hinten rechts neben dem Eingang. Ich machte es mir zur Aufgabe, auswendig zu lernen, wie Jelinek seinen Tag in der Synagoge verbrachte: Zwischen 8.45 und 9.30 Uhr war er in die Gebete vertieft. Da durfte man ihn nicht stören. Auch nicht »Gut Schabbes« wünschen. Zwischen halb zehn und halb elf widmete er sich der Tageszeitung. Auch da durfte man ihn nicht stören. In aller Seelenruhe blätterte er eine Seite nach der anderen um und kümmerte sich keinen Deut um die Toralesung und um die Rede des Rabbiners. Doch pünktlich zum Mussaf-Gebet verschwand Herr Jelinek im Kiddusch-Raum, wo er sich einen Schnaps gönnte und von den Erdnüssen naschte. Natürlich wollte ich auch einmal so werden wie Herr Jelinek.

Wenn ich so nachdenke, fällt mir auf, dass ich mich noch an alle Synagogenbesucher erinnern kann. Irgendwie waren das noch Charakterköpfe, die – jeder auf seine Art – hervorstachen.

Zum Beispiel auch Herr Goldenring. Der war früher Pilot bei der EL AL und hat dann eine nichtjüdische Stewardess von der Swissair geheiratet. Er war der Einzige in der Synagoge, der richtig beten konnte und eine ordentliche Stimme hatte. Aber er stank entsetzlich. Jetzt fällt mir auch ein, dass er beim Kiddusch tüchtig trank. Das ist mir als Kind nie richtig bewusst gewesen.

Und Herr Bollag, unser Gemeindepräsident. Auch er hat eine schöne Frau aus dem anderen Lager geheiratet. Herr Bollag war stinkreich. Die Zahl 1 kannte er nicht: Er besaß drei Synagogenplätze, vier Häuser, drei Autos und wurde mindestens fünfmal zur Tora aufgerufen. Wenn ich kein Jelinek werde, dachte ich als Kind, dann halt ein Bollag.

Staatenlos Und dann war da noch David Tubiana, ein Russe. Eigentlich wollten er und seine Frau nach Israel ziehen. Das Klima aber, so hieß es, würde ihm nicht guttun. Herr Tubiana war so ein spezieller Fall. Klar war er jüdisch, keine Frage. Aber noch nicht beschnitten. Damals in Russland ging das noch nicht so leicht wie heute. Herr Tubiana war in unserer Gemeinde eine Art Staatenloser: Zum Minjan wurde er gezählt, zur Tora aufgerufen aber nicht. Ich hatte Mitleid mit ihm. War ich doch froh, die Beschneidung schon hinter mir zu haben.

Wenn ich mich heute umblicke, kenne ich häufig nicht die Namen der anderen Beter. Täusche ich mich, oder sind sie sich immer ähnlicher geworden? Mir fällt niemand ein, der jetzt aus der Masse hervorragt, weil er irgendeinen Spleen hat. Aber vielleicht sind alle Erwachsenen für Kinder Freaks. Wer weiß, vielleicht wird man in 20 Jahren auch von mir schwärmen: Herr Frenkel, das ist doch dieser ulkige Typ, der immer einen Schaufaden hinten raushängen lässt und wie ein aufziehbares Musikelefäntchen aussieht.

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025

Lech Lecha

Im Sinne der Gerechtigkeit

Awraham war der Erste in der Menschheitsgeschichte, der gegen das Böse aufstand

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  31.10.2025

Talmudisches

Audienz beim König aller Könige

Was unsere Weisen über das Gebet und seine Bedeutung lehren

von Rabbiner Avraham Radbil  31.10.2025

Geschichte

Wer war Kyros der Große?

Manche behaupten, Donald Trump sei wie der persische Herrscher, der den Juden die Rückkehr nach Jerusalem erlaubte. Was hinter dem Vergleich steckt

von Rabbiner Raphael Evers  30.10.2025

Interview

»Süßes gibt’s auch in der Synagoge«

Jugendrabbiner Samuel Kantorovych über Halloween, dunkle Mächte und Hexen im Talmud

von Mascha Malburg  30.10.2025

Vatikan

Papst bedauert Krise im Dialog mit Juden - verurteilt Antisemitismus

Seit Jahren ist der Dialog des Vatikans mit dem Judentum belastet. Nun hat Leo XIV. versucht, die Dinge klarzustellen - mit einem Bekenntnis zum Dialog und gegen den Antisemitismus

von Ludwig Ring-Eifel  29.10.2025

Schwielowsee

Shlomo Afanasev ist erster orthodoxer Militärrabbiner für Berlin und Brandenburg

Militärrabbiner gibt es bereits in Deutschland. Nun steigt der erste orthodoxe Rabbiner bei der Bundeswehr in Brandenburg ein

 29.10.2025

Rom

Eklat durch NS-Vergleich bei interreligiösem Kongress

Der Dialog zwischen katholischer Kirche und Judentum ist heikel. Wie schwierig das Gespräch sein kann, wurde jetzt bei einem Kongress in Rom schlagartig deutlich. Jüdische Vertreter sprachen von einem Tiefpunkt

von Ludwig Ring-Eifel  27.10.2025

Talmudisches

Das Schicksal der Berurja

Die rätselhafte Geschichte einer Frau zwischen Märtyrertum und Missverständnis

von Yizhak Ahren  24.10.2025