Fische

21.000 Gräten und eine Frage

Die Tora sagt: »Alle Tiere mit Flossen und Schuppen, die im Wasser, in Meeren und Flüssen leben, dürft ihr essen.« (Filmszene aus »Findet Nemo«) Foto: imago images / United Archives

Was, bitte, ist ein Fisch? Das ist eine gute Frage. Ein Fisch ist auf den ersten Blick ein Lebewesen, das im Wasser zu Hause ist. Manche Fische leben in Süßwasser, einige in salzigem Meereswasser, und der Lachs schafft es in beiden. Außer im 3. Buch Mose 11, 9–12 und dem 5. Buch Mose 14,9 steht relativ wenig im Tanach, der Hebräischen Bibel, über das Problem, welche Fische für Juden als Fische gelten.

»SCHEKETZ« Was in der Tora dazu steht, ist eindeutig: Fische müssen Schuppen und Flossen haben, weil sie sonst »Scheketz« sind – nicht nur unrein, sondern ein Gräuel. »Alle Tiere mit Flossen und Schuppen, die im Wasser, in Meeren und Flüssen leben, dürft ihr essen. Aber alles, was in Meeren oder Flüssen lebt, alles Kleingetier des Wassers und alle Lebewesen, die im Wasser leben und keine Flossen oder Schuppen haben, seien euch abscheulich«, heißt es im 3. Buch Mose.

Fische gelten in der jüdischen Küche als »parve« – genauso wie Gemüse.

Doch damit nahmen es die Israeliten im alten Israel offenbar nicht so genau: Archäologische Untersuchungen von 21.000 Fischgräten aus einem Zeitraum von mehr als 2000 Jahren (1550 v.d.Z. bis 640 n.d.Z.) und 30 archäologischen Stätten in Israel haben ergeben, dass Haie, Welse, Aale und andere verbotene Wassertiere bei den Israeliten lange Zeit beliebt waren.

RÖMERZEIT Erst mit Beginn der Römerzeit gebe es archäologische Beweise, dass Juden die unkoscheren Lebewesen auf ihrem Speiseplan mieden, wird die Studie zitiert, die in einer Fachzeitschrift der Universität Tel Aviv veröffentlicht wurde.

Damit machten sich die Israeliten das Leben leichter, als es – jedenfalls in Bezug auf das Kochen – ohnehin gewesen wäre: Im Vergleich zu den endlosen Fragen und Regeln zu Fleisch, zum Schächten und Servieren und so weiter sind Fische für die jüdische Küche relativ einfach. Obwohl sie Lebewesen waren, gelten sie genauso als »parve« wie Gemüse.

Fisch mit Milch oder Sahne ist daher normalerweise erlaubt. Weil sie keine Säugetiere sind, ist das Verbot, ein Tier nicht in der Milch seiner Mutter zu kochen, nicht relevant. Fischblut hingegen darf man nicht verzehren wegen »Mar’it HaAjin« – es ist nicht per se verboten, könnte aber einen falschen Eindruck erwecken. Heutzutage wären jüdische Feste undenkbar ohne Lachs, Forelle, Makrele und Thunfischsalat. Auch ein Kiddusch ohne Hering ist für viele Beter geradezu undenkbar.

Im Tanach kommt es allerdings selten vor, dass Menschen Fisch essen. Umgekehrt schon eher – im Buch Jona verschlingt ein Fisch, genauer gesagt ein Wal, einen Menschen.

Die Israeliten in der Wüste Sinai, im Ostjordanland und später in Jehuda und Schomron hatten viele Überlebenstalente entdeckt und entwickelt – doch die Fischerei gehörte nicht unbedingt dazu. Im 4. Buch Mose 11,5 klagten die Israeliten, dass sie nicht mehr die Fische aus Ägypten essen könnten (mit Zwiebeln, Lauch und Knoblauch?).

Es ist dabei unklar, ob sie Fische aus dem Nil oder dem Mittelmeer meinten: Durch unsere Geschichte sind die meisten Juden weit entfernt von den Küsten geblieben – außer einige Sefarden am Mittelmeer oder Aschkenasen am Schwarzen Meer oder vielleicht an der Ostsee. Bis zur Entstehung der Eisenbahn war es sehr schwierig, Fisch vom Meer ins Landesinnere zu transportieren – es sei denn, er war eingesalzen oder getrocknet. Dosen gab es damals noch nicht.

SÜSSWASSERFISCHE In Israel und in Europa verzehrten Juden deswegen jahrhundertlang hauptsächlich die Süßwasserfische der Flüsse und Seen in der Nähe: Karpfen, Forelle, Hecht. Und wenn die Fische gefüllt wurden, aßen wir Gefilte Fisch.

Nein, das jüdische Volk war nicht sehr fischaffin: Die Israeliten in Babylon weinten am Flussufer, statt zu angeln. Obwohl die Tora beschreibt, welche Fischarten zu essen erlaubt sind, gab es nie einen Fisch als Opfer im Tempel. Wir sollen Erstlingsfrüchte darbringen, nicht Meeresfrüchte. Um auf das biblische Verbot zurückzukommen: also keine Krebse, Hummer, Austern, Shrimps oder Tintenfisch! Interessanterweise gibt es auch keine Bracha »Bore Peri HaJam« (»der die Meeresfrüchte geschaffen hat«) oder »Pri HaMajim« (die Wasserfrüchte).

Es gibt übrigens auch keine besondere Bracha für Fleisch, obwohl nicht nur Säugetiere, sondern auch Fische heute massenweise geschlachtet werden. Man hört es nicht, wenn sie sterben, weil sie in der Luft ertrinken. Das macht es für manchen sicherlich einfacher, außer für konsequente Vegetarier, die auch den Verzehr von Fischen ablehnen.

Mich persönlich hat der Bericht, dass einige Israeliten Wels und Aal und andere »Fische-die-nicht-Fische-waren« aus dem Kinneret oder anderen Gewässern verzehrt haben, übrigens keineswegs überrascht. Es gab jahrhundertelang Zweifel daran, ob der Stör wirklich Schuppen hat und ob Kaviar deswegen nicht doch erlaubt werden sollte.

HALAL Im Islam gibt es übrigens ebenfalls Einschränkungen, welche Fische zum Verzehr erlaubt sind: Die Sunniten in Indonesien erlauben fast alles, einschließlich Shrimps und Hummer, während andere Sunniten Shrimps und weitere Meerestiere verbieten. Nicht-hanafitische Sunniten, also fast die Hälfte aller Muslime weltweit, betrachten Fisch und Meeresfrüchte ohne Einschränkungen von Natur aus als halal: »Erlaubt sind euch die Jagdtiere des Meeres und (all) das Essbare aus ihm als Nießbrauch für euch und für die Reisenden« (Koran, V, 96). Die Schiiten wiederum sind fast wie wir Juden: Sie erlauben nur »echte Fische«, die als solche zu erkennen sind.

Und warum hielten sich die Israeliten nicht an das biblische Verbot? Der Archäologe Jonathan Adler von der israelischen Universität Ariel hat keine eindeutige Erklärung für die unkoscheren Grätenfunde: Seiner Meinung nach deuten sie darauf hin, dass das Verzehrverbot für flossen- und schuppenlose Meerestiere offenbar als Reaktion auf eine langjährige Praxis der Israeliten ausgesprochen wurde.

Auch im Islam gibt es Verbote, Meerestiere ohne Flossen und Schuppen zu verzehren.

Es unterscheide sich etwa vom Verbot von Schweinefleisch, das zu diesem Zeitpunkt nur von wenigen Gruppen in der Levante verzehrt worden sei. Schweineknochen fehlten schon mit Beginn der Spätbronzezeit in archäologischen Schichten der Region mit Ausnahme der Südküste fast vollständig.

ÜBERTRETUNG Doch erst während der Zeit des Zweiten Tempels in Jerusalem setzte sich auch das Verbot von Meerestieren ohne Schalen und Flossen durch. Die Funde zeigen jedenfalls nach Ansicht der Archäologen, dass zu Zeiten, als es die biblischen Gesetze angeblich bereits gab, Juden trotzdem unkoscheren Fisch aßen.

Dies gebe Hinweise darauf, »wann das Judentum, wie wir es kennen, mit seinen Speisegesetzen und anderen Wegweisern des Glaubens zu einer Massenreligion wurde«, so der Archäologe Adler. Und das ist es bis heute geblieben – auch wenn es bis heute Juden gibt, die sich vielleicht nicht immer ganz konsequent an alle Regeln der Kaschrut und an das Verbot bestimmter Meerestiere halten.

Der Autor ist Rabbiner und lebt in Berlin.

Anti-Judaismus

Friedman: Kirche hat »erste globale Fake News« verbreitet

Der gebürtige Pariser warnte zudem vor weltweiten autokratischen Tendenzen und dem Verlust der Freiheit

 02.09.2025

Schoftim

Recht sprechen

Eine Gesellschaft hat nur dann eine Zukunft, wenn sie sich an ihrer moralischen Gesetzgebung orientiert

von Rabbiner Avraham Radbil  29.08.2025

Talmudisches

Der heimliche Verbrecher

Über Menschen, die nicht aus Wahrheit, sondern aus Selbstdarstellung handeln

von Vyacheslav Dobrovych  29.08.2025

Kiddusch Haschem

»Ich wurde als Jude geboren. Ich werde als Jude sterben«

Yarden Bibas weigerte sich gegenüber den Terroristen, seinen Glauben abzulegen. Wie viele vor ihm lehnte er eine Konversion ab, auch wenn ihn dies beinahe das Leben gekostet hätte

von Rabbiner Dovid Gernetz  28.08.2025

Israel

Rabbiner verhindert Anschlag auf Generalstaatsanwältin

Ein Mann hatte den früheren Oberrabbiner Jitzchak Josef um dessen religiöse Zustimmung zur »Tötung eines Aggressors« ersucht. Die Hintergründe

 26.08.2025 Aktualisiert

Re'eh

Freude, die verbindet

Die Tora zeigt am Beispiel der Feiertage, wie die Gemeinsamkeit gestärkt werden kann

von Vyacheslav Dobrovych  22.08.2025

Elul

Der erste Ton des Schofars

Zwischen Alltag und Heiligkeit: Der letzte Monat vor dem Neujahr lädt uns ein, das Wunderhafte im Gewöhnlichen zu entdecken

von Rabbiner Raphael Evers  22.08.2025

Talmudisches

Positiv auf andere schauen

Was unsere Weisen über den Schutz vor bösem Gerede und die Kraft positiver Gedanken lehren

von Diana Kaplan  21.08.2025

Naturphänomene

Entzauberung des Gewitters

Blitz und Donnergrollen wurden lange als Zorn der Götter gedeutet. Doch die Tora beendete diesen Mythos

von Rabbiner Igor Mendel Itkin  21.08.2025