Essay

Wichtige Stimmen

»Berlin trägt Kippa«: Solidaritätskundgebung am 25. April 2018 in Berlin Foto: Gregor Zielke

»Wehret den Anfängen.« Wer sich an diese Mahnung erinnert, outet sich als Veteran im Kampf gegen Rechtsradikalismus und Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland, das sich damals in Ost wie West noch ein bisschen reuig zeigte, weil das Massenmorden der Eltern zu frisch in Erinnerung war.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland gehört mit seinen stolzen 70 Jahren auch zu diesen Veteranen, mit klugen Köpfen und mutigem Personal.

Ob Heinz Galinski, Ignatz Bubis, Paul Spiegel, Charlotte Knobloch, Dieter Graumann oder aktuell Josef Schuster: die jüdische Stimme in einem Land, das wieder zurück in die Völkergemeinschaft wollte und deshalb peinlich darauf bedacht war, alles richtig zu machen. Deutschland stand unter Bewährung. Viele Juden glaubten deshalb, im Land der Mörder von gestern heute sicher zu sein.

Opposition Die Anfänge, die es abzuwehren galt, sind Geschichte. Inzwischen sitzt die AfD als größte Opposition im Deutschen Bundestag und in allen Landtagen. Die Partei, die eine komplette Wende in der Erinnerungskultur einfordert und einleitet, die »Hitler und die Nazis« einen »Vogelschiss« und das Schoa-Mahnmal in Berlin ein »Denkmal der Schande« nennt.

Die immer neuen Enthüllungen, etwa bei der hessischen Polizei zu »NSU 2.0«, lassen Schlimmstes befürchten.

Die Liste der Schamlosigkeiten ist beschämend lang, und die Quittung für duldendes Wegschauen präsentiert der Verfassungsschutzbericht 2019: Rechtsextremistische Straftaten haben um zehn Prozent zugenommen, antisemitische um 17 Prozent. Das reicht von der Schändung jüdischer Friedhöfe bis zum monströsen Anschlag auf die Synagoge in Halle. Die ganze Realität des antisemitischen Alltags aber bildet der Bericht nicht ab.

Viele Schikanen gegen Juden werden nicht angezeigt oder gelten selbst dann nicht als antisemitische Straftat, wenn der Anschlag eine Synagoge trifft wie in Wuppertal 2014.

Holztür Ein Protest gegen Israel sei nicht »per se« antisemitisch, selbst wenn die muslimischen Täter das jüdische Gotteshaus mit fünf Litern Diesel hatten anzünden wollen, so der verständige Richter in letzter Instanz. Er entschied auf Sachbeschädigung. So gesehen, ist auch in Halle nur eine Holztür in Mitleidenschaft gezogen worden.

Eine »Schande für unser Land« nennt der zuständige Bundesinnenminister Horst Seehofer seinen neuen Bericht. Seine Empörung ist wohlfeil, denn die Zahlen kamen nicht über Nacht.

Juden erleben seit Jahren, wie anschlussfähig Judenhass, zumal im Gewand der »Israelkritik«, ist. Der versuchte Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin 1969 oder der Brandanschlag ein Jahr später auf das jüdische Altersheim in München waren Schandtaten aus der linken Kameradschaft, die sich selbst von jedem Antisemitismus freisprach.

Terrorgruppe Auf der rechten Seite durfte die »Wehrsportgruppe Hoffmann« fast ein Jahrzehnt lang durch die fränkischen Wälder hüpfen, bis ihr Chef 1980 endlich hinter Gitter kam. Ein Mitglied seiner Terrorgruppe hatte den Rabbiner Shlomo Lewin und dessen Lebensgefährtin in Erlangen umgebracht. Der Mörder setzte sich in den Libanon ab und kuschelte dort mit der PLO, genau wie die versprengten Kader der RAF. Rechts, links, muslimisch – der Text passt sich an, die Melodie bleibt. Es ist das alte antisemitische Lied von der jüdischen Weltverschwörung. Corona ist derzeit der passende Brandbeschleuniger.

Juden erleben seit Jahren, wie anschlussfähig Judenhass ist.

Die ausgepackten Koffer in jüdischen Haushalten liegen wieder griffbereit. Selbst den geduldigsten Mahnern, wie dem Zentralratspräsidenten Josef Schuster, kommen sie wieder in den Sinn, würde der AfD der Sprung in eine Landesregierung gelingen.

Bergleute stiegen früher mit Kanarienvögeln in die Kohlestollen, um den Sauerstoffgehalt der Luft zu prüfen. Juden sind schon immer die Kanarienvögel, die spüren, wenn die demokratische Luft zu dünn wird und es Zeit wird zu gehen. Auch deshalb steigt in manchen europäischen Nachbarländern die Zahl der Auswanderer nach Israel. Früher als in Deutschland feierten dort rechtsextreme Parteien Wahlerfolge, Deutschland schien dagegen erstaunlich lange immun. Das ist vorbei.

BDS Die Bundesregierung strampelt sich gerade wacker ab in ihren Bemühungen, Juden die Angst zu nehmen: Die islamistische Hisbollah ist endlich auf dem Index. Antisemitismusbeauftragte landauf landab. Auch der Beschluss gegen die Israelboykotteure des BDS steht auf der Habenseite.

Trotzdem nimmt die Bedrohung zu, für Juden ebenso wie für alle, die sich den Hetzern in den Weg stellen, und für jene, die nicht ins Bild der deutschen Volksgemeinschaft passen. Zwei von ihnen hat der Attentäter von Halle erschossen. Und die immer neuen Enthüllungen, etwa bei der hessischen Polizei zu »NSU 2.0«, lassen Schlimmstes befürchten.

Die ausgepackten Koffer in jüdischen Haushalten liegen wieder griffbereit.

Halle war ein Einschnitt, Rostock-Lichtenhagen das Menetekel. Niemand ahnte das so früh wie der damalige Zentralratsvorsitzende Ignatz Bubis s.A. Er fuhr nach Rostock, weil er wusste, dass es kein sicheres jüdisches Leben in einem Deutschland geben kann, in dem Fremde schutzlos sind.

Er war skandalös allein und musste sich sogar noch von einem CDU-Stadtrat vorhalten lassen, er habe in Rostock nichts zu suchen, seine Heimat sei schließlich Israel. Am Ende traute er seiner deutschen Heimat nicht und ließ sich in Israel begraben. Wie wichtig die jüdischen Stimmen hierzulande sind, werden viele erst begreifen, wenn sie fehlen.

Der Autor ist Journalist in Frankfurt.

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