Berlin

Was passierte wirklich im besetzten Hörsaal der Freien Universität?

Die Besetzung eines Hörsaals durch »israelkritische« Aktivisten sorgte für Aufsehen. Doch die Erzählungen, was dort geschehen ist, gehen auseinander

von Mascha Malburg  06.02.2024 23:11 Uhr Aktualisiert

Die Besetzung eines Hörsaals durch »israelkritische« Aktivisten sorgte für Aufsehen. Doch die Erzählungen, was dort geschehen ist, gehen auseinander

von Mascha Malburg  06.02.2024 23:11 Uhr Aktualisiert

Am vergangenen Donnerstagmittag hatte die Gruppe »Students for Free Palestine« einen Hörsaal an der FU Berlin besetzt. Was dann passierte, ist nach wie vor umstritten. Die Versionen der Unileitung, jüdischer und propalästinensischer Gruppen gehen auseinander. Eine Rekonstruktion.

Warum und in welchem Kontext erfolgte die Besetzung?

Seit dem 7. Oktober gab es auf den Campus der Freien Universität (FU) propalästinensische, zum Teil gegen Israel hetzende Plakate und Versammlungen, die ohne Genehmigung der Uni innerhalb ihrer Räumlichkeiten abgehalten wurden.

Vor einem guten Monat traf sich der Präsident der Universität, Professor Günther Ziegler, mit jüdischen Studierenden. Sie schilderten ihm, dass sie auf dem Campus Angst hätten und Bedrohung spürten. Seit dem Treffen habe sich allerdings nichts merklich für sie verändert. Jüdische Studierende haben sich inzwischen selbst an der FU mit einigen solidarischen Mitstreitern organisiert, halten Mahnwachen ab und haben mehrmals versucht, ein weiteres Gespräch mit der Unileitung aufzunehmen, geben aber an, sie hätten keine Reaktion auf ihre Anfragen bekommen.

Am 5. Dezember schickte das Präsidium dann eine Rundmail an alle 40.000 Studierenden und Angestellten der Universität, in dem es betont, dass es weder Antisemitismus noch Islamfeindlichkeit oder anti-arabischen Rassismus auf dem Campus toleriere und dagegen vorgehen werde. »Unsere Freie Universität Berlin muss ein Ort sein, an dem sich alle Studierenden und Mitarbeitenden, gleich welcher Herkunft oder Konfession, ohne Wenn und Aber sicher fühlen können.«

Die Besetzung des Hörsaals erfolgte als Reaktion auf diese Rundmail. Die Besetzer, die hinter der neugegründeten Instagramseite namens »Free Students For Palestine FU« stecken, schreiben kurz vor der Aktion in einem Post, das Präsidium vermeide in dem Brief, »den Schuldigen dieser Katastrophe zu benennen: den Staat Israel.« Die FU unterstütze »den Genozid in Gaza«, indem sie zum Beispiel eine Kooperation mit der Hebrew University aufrechterhalte. Dass an der israelischen Universität auch hunderte Palästinenser aus dem Westjordanland studieren, erwähnen die Autoren nicht.

Außerdem, so heißt es in der Begründung, erlebten pro-palästinensische Studierende, insbesondere migrantische Studierende weiter eine »Unterdrückung ihrer Anliegen von Seite der Universitätsleitung«. Die fehlenden »Räume für kritische Auseinandersetzung« würde man sich mit der Besetzung nun selbst schaffen.

Wer genau hat den Hörsaal besetzt?

Nicht nur der neugegründete Kanal von »Free Students for Palestine FU« teilte den Aufruf, sondern auch »Students Coalition Berlin«, ein Bündnis, welches auch zu anderen umstrittenen Protestaktionen an Berliner Universitäten aufgerufen hatte und an der Organisation einer Großdemonstration in Berlin beteiligt war. Die Veranstalter veröffentlichten ein Programm für den Tag der Besetzung. Als Redner wurden unter anderem folgende Gruppen angekündigt:

»Waffen der Kritik« – bezeichnen sich selbst als marxistische Hochschulgruppe von »Klasse Gegen Klasse«, der Online-Zeitung der Revolutionären Internationalistischen Organisation (kurz: RIO). RIO ist Teil der Trotzkistischen Fraktion - Vierte Internationale. »Waffen der Kritik« wurde im Januar auf Platz 3 ins Studierendenparlament der FU gewählt. In ihrem »programmatischen Manifest« kritisieren sie »die Verunglimpfung der Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf als Antisemitismus.«

»Young Struggle Berlin« –  sehen sich laut dem Verfassungsschutz als Miliz der türkischen Marxistisch-Leninistisch-Kommunistischen Partei. Die Massaker vom 7. Oktober beschreibt Young Struggle auf ihrem Blog als »eine Operation der palästinensischen Nationalen Befreiungsbewegung gegen die israelische Besatzung« und als »Rückkehr von palästinensischen Militanten in ihre Heimat.« Young Struggle solidarisierte sich mit dem verbotenen Netzwerk Samidoun, welches das Massaker der Hamas auf der Sonnenallee feierte.

»Arbeiterinnenmacht« – ist eine trotzkistische Gruppe, deren Redner bereits bei der antisemitischen Protestaktion an der Universität der Künste sprach. Dort hatten sich Aktivisten mit »blutverschmierten«, an den Lynchmord in Ramallah erinnernden rotgefärbten Händen, dem Unidirektor entgegengestellt.

»ZORA« - eine linksradikale Frauenrechtsorganisation. Fünf Tage nach der Besetzung führte die Polizei bei fünf ihrer Mitglieder Razzien wegen des Verdachts der Terrorverherrlichung durch.

Am Ende waren an der Besetzung des Hörsaals der FU etwa 70 bis 80 Personen beteiligt. Plakate der oben genannten Gruppen wurden aufgehängt, auch ihre Redner und Rednerinnen waren vertreten. Wie viel Prozent der Teilnehmenden tatsächlich an der FU studieren, kann nicht ausgemacht werden. Dass es sich bei den Besetzern aber nur um »externe Akteure« handle, wie Präsident später im RBB anklingen ließ, ist wohl nicht der Fall.

Wurde Antisemitismus auf den Plakaten und in den Reden deutlich?

Beobachter bestätigen, dass während der Versammlung Israel mehrfach das Existenzrecht abgesprochen wurde. Auf einem Video ist zu hören, wie eine Rednerin am Mikrofon sagt, dass es »keine israelische Nation gibt«, und Israel daher keinen nationalen Anspruch habe. Besonders skurril: Danach erklärt sie, warum im Gegensatz dazu der türkische Staat ein Existenzrecht habe, »weil es eine türkische Nation gibt, weil es eine türkische Arbeiterbewegung gibt.« Buh- oder Zwischenrufe sind nicht zu hören. Die Besetzer scheinen insgesamt damit einverstanden.

Pro-israelische und jüdische Studierende, die später in den Saal kamen, erzählen unabhängig voneinander, dass in den Reden als Musterbeispiel für palästinensischen Widerstand die erste und zweite Intifada glorifiziert wurde. Bei den Aufständen starben über tausend Israelis – und noch mehr Palästinenser. Bei der zweiten Intifada spielte die Hamas schon eine entscheidende Rolle. Sie verübten Terroranschlägen gegen israelische Zivilisten.

Außerdem, so die jüdischen Studierenden, kam es bei der Besetzung an der FU zu Verharmlosungen der Shoa, und klassisch antisemitischer Geschichtsdeutung. Demnach hätten die Redner gesagt, der Kapitalismus hätte zum Holocaust geführt. Deutschen würde heute eine Schuld dafür eingeredet. Das sorge dafür, dass sie sich nicht trauen würden, Israel zu kritisieren. Videobeweise gibt es davon nicht. Allerdings wurde ein Vortrag zu »german guilt« offiziell im Programm angekündigt.

Abfotografierte Plakate zeigten wieder die mit dem Lynchmord an Juden assoziierten, roten Hände. Israel wird auf einem Plakat als »mordender Apartheidsstaat« bezeichnet.

Die Besetzer dementieren den Antisemitismus, wobei sie von einer Definition ausgehen, bei der sie jegliche Kritik bis hin zur Dämonisierung Israels nicht als antisemitisch, sondern als legtitimen und notwendigen »Antizionismus« verstehen. Quasi zum Beweis betonten sie im Nachhinein immer wieder, dass bei der Besetzung auch Personen von jüdischen, antizionistischen Gruppen anwesend waren. Es sind die Gruppen, die seit Wochen an pro-palästinensischen  Demonstrationen beteiligt sind, auf denen gleichzeitig Israel immer wieder das Existenzrecht aberkannt wird und auch zum Mord an Israelis, also Juden aufgerufen wurde.

Wurden jüdische Studierende von der Veranstaltung ausgeschlossen?

Am Freitag schrieb die Pressestelle der FU Berlin, Berichte, denen zufolge Personen wegen ihres Glaubens oder ihrer Nationalität nicht in den Hörsaal gelassen wurden, träfen nicht zu. Jüdische Studierende, die am Donnerstag bei der Besetzung waren, widersprechen dem.

So sagt ein jüdischer Student, er wäre ohne sichtbare politischen Symbole schon gegen Mittag allein zum Hörsaal gegangen, um sich anzusehen, was dort passiere. Als er hineingehen wollte, habe sich »eine Mauer vor ihm aufgebaut«. Besetzer in Warnwesten hätten ihn aufgehalten. »Zionisten haben keinen Zutritt«, hätten sie gesagt. Die Besetzer hätten ihn wohl erkannt, da er sich vorher in Medien gegen Israelhass an der Uni ausgesprochen hatte und schon bei Gegendemos dabei war. Er hätte sich dann an den Besetzern vorbeigedrängelt und hinten in den Saal gesetzt, eine Freundin kam später hinzu. Vom Saalmikrofon aus hätte jemand gesagt: »Dort sitzt ein Zionist« und auf ihn gezeigt. Dann sei er ausgebuht worden. 

Weitere Israel-solidarische Studierende, die später am Hörsaal eintrafen, berichten, sie wären überhaupt nicht mehr reingekommen, ebenfalls mit der Begründung, sie seien Störer und Zionisten. Sie hätten sich dann vor dem Hörsaal mit einer Israel-Fahne zum Gegenprotest versammelt, wobei sie nur wenige gewesen seien. Auf Bildern sind etwa sieben Gegendemonstranten zu sehen.

Später habe die Diversitäts-Beauftrage der Universität mit den Besetzern verhandelt. Die israel-solidarischen Studierenden hätten dann hineingedurft, um, wie die Beauftragte ankündigte, »einen Diskussionsraum zu öffnen«. Doch als die Studierenden ihre eigenen Plakate mit Bildern der israelischen Geiseln aufhängen wollten, wurden sie daran gehindert und die Plakate abgerissen. Durch das Saalmikrofon wurde gerufen: »Scheiß Zionisten, verpisst euch« und »Das ist unsere Uni!« Dies ist auch auf Videos zu hören.

In ihrer Pressemitteilung schreiben die Besetzer später: »Wir verweigerten Personen, die sich gewaltsam verhielten, den Zutritt, oder forderten sie zum Verlassen des Gebäudes auf.«

Keiner der jüdischen Studierenden oder anwesenden Journalisten gibt an, sie wären explizit als »Juden« benannt und ausgeschlossen worden. Gleichzeitig wird die Bezeichnung »Zionisten« auch von der Bundeszentrale für politische Bildung als eine mittlerweile nahezu universell eingesetzte Chiffre für Juden verstanden.

Am Dienstag veröffentlichte die beteiligte Hochschulgruppe »Waffen der Kritik« ein Video, in dem sie erklärten, es handle sich »bei den angeblichen Opfern um eine Gruppe jüdischer Rechter, die schon in der Vergangenheit Proteste gestört hätten.« Sie zeigten auch das Gesicht eines jüdischen Studierenden bei einer Demonstration. Dieser will dagegen nun polizeilich vorgehen.

Wer wurde wann handgreiflich? Gab es Verletzte?

Als ein Student versuchte, ein Plakat der israelischen Geiseln aufzuhängen, kam es zu gegenseitigem Drängeln und Schubsen. Später nahm ein Student in Kufiya einem jüdischen Studenten sein Handy weg. Dieser versuchte, es sich zurückzuholen. Dabei kam es wieder zu einem Handgemenge. Die Vorfälle sind per Video dokumentiert. Beide Seiten stellten später Anzeigen wegen Körperverletzung.

Mehrere jüdische Studierenden geben an, sich gewehrt zu haben, als sie körperlich bedrängt wurden. Ein jüdischer Student erzählt, er habe nach verbalen Bedrohungen gegen ihn den Saal verlassen wollen, wurde aber nicht nur beim Reingehen, sondern diesmal auch beim Rausgehen von den Besetzern mit Warnwesten aufgehalten. Er habe sich in Panik durch die Mauer gekämpft. Er berichtet, ihm sei »Schalom« in zynischem Ton hinterhergebrüllt worden sein.

Später wurde ein jüdischer Student von einer vorbeigehenden älteren Frau angespuckt. Es ist nicht klar, ob dies antisemitisch motiviert war.

Wie reagierte die Unileitung auf die Besetzung?

Die FU Berlin schreibt, sie habe die Besetzer zum Verlassen der Räumlichkeiten bis 16 Uhr aufgefordert. Wann das erfolgte, lässt sie offen.

Die Studierenden und Journalisten vor Ort beschreiben, dass die Diversitätsbeauftragte der Uni schon früh vor und später auch im Hörsaal anwesend war. Sie habe zunächst nicht die Auflösung der Besetzung gefordert, sondern versucht »zu vermitteln«. Mehrere jüdische Studierende sagen, sie hätten sie wiederholt auf antisemitische Botschaften im Saal aufmerksam gemacht. Allerdings hätte die Universität erst gegen 15 Uhr angekündigt, dass die Besetzung nun innerhalb einer Stunde aufgelöst werden müsse. Später setzte die Polizei dies um, in dem sie den Saal räumte.

FU-Präsident Ziegler bestätigte später gegenüber dem RBB: »Das waren jetzt nicht führend die antisemitischen Aussagen, dass wir es deswegen gleich aufgelöst hätten.« Und: »Wir können nicht, wenn irgendwo, irgendjemand eine Äußerung macht, gleich den Saal räumen.« Vielmehr führten wohl erst die Handgreiflichkeiten zur Entscheidung der Auflösung der Besetzung.  

Wie geht es den jüdischen Studierenden an der FU Berlin jetzt?

Viele jüdische Studierende sind empört über die Aussagen ihres Unipräsidenten, auch in den Tagesthemen, wo er auf ernste Fragen hin mit einem Lachen reagiert habe. Sie fühlen sich nicht ernst genommen. Mehrere Studierende gaben an, sie würden seit der Besetzung den Campus nur noch in Begleitung betreten, und die Mensa oder Bibliothek meiden. In Telefonaten mit der Autorin zeigten sie sich hörbar verzweifelt. Sie machten dies auch in einer Mail am Montag an die Berliner Wissenschaftssenatorin deutlich, die in CC auch an das Präsidium der FU ging. Bislang gab es darauf von beiden Seiten keine Antwort.

Transparenzhinweis: Die Autorin dieses Artikels war am vergangenen Donnerstag nicht an der Freien Universität. Aber sie hat mit mehreren Personen gesprochen, die da waren: Mit Beobachtern und Beteiligten. Sie hat Bildmaterial von dem Vorfall gesichtet. Und sie hat recherchiert, was die Besetzer, die Unileitung, die jüdischen Studierenden und ihre Mitstreiter vor, während und nach der Besatzung öffentlich gesagt haben.

Richtigstellung: In einer vorherigen Version dieses Artikels hieß es, dass »Klasse Gegen Klasse« eine linksextremistische Gruppe in Berlin sei, der der Verfassungsschutz bis Mitte der Zweitausender 33 Brand- und 5 Sprengstoffanschläge zuschreibe. Dies ist falsch. Die hier gemeinte, gleichnamige Gruppe hat keine bekannten Verbindungen zu der Terrorgruppe.

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