Position

»Von der Leistung, kein Zyniker geworden zu sein«

Ralph Giordano Foto: imago

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»Von der Leistung, kein Zyniker geworden zu sein«

Zwischen Verzweiflung und vorsichtigem Optimismus – ein Auszug aus Ralph Giordanos neuem Buch

von Ralph Giordano  03.04.2012 07:44 Uhr

Die Welt von heute – gut für Juden, schlecht für Juden?» Dazu einen kurzen Blick auf «die Welt von gestern», mitverantwortlich für die von heute – die Grausamkeiten an den Anfang.

Unverblümt: Schloss Elmau steht auf dem Territorium eines Landes, wo dem größten geschichtsbekannten Verbrechen mit Millionen und Abermillionen Opfern (...) das größte Wiedereingliederungswerk für Täter gefolgt ist, das es je gegeben hat. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind sie nicht nur straffrei davongekommen, sie konnten ihre Karrieren auch unbeschadet fortsetzen. Nur ein Beispiel: 32.000 aktenkundige politische Todesurteile – Kopf ab, Kopf ab, Kopf ab – wegen nichts, wegen Bagatellen … Aber keiner dieser NS-Blutrichter und -Ankläger ist je von der deutschen Nachkriegsjustiz rechtskräftig verurteilt worden, kein einziger. (...)

Zweite Schuld Das ist nur eine Facette dessen, was ich die «zweite», die «Schuld nach 1945» genannt habe – also die Verdrängung der ersten unter Hitler. Und das nicht etwa bloß als rhetorische oder moralische Kategorie, sondern tief instituiert durch den «Großen Frieden» mit den Tätern. Eine von Politik und Gesellschaft nahezu kollektiv verhinderte Katharsis, ein irreparables historisches und moralisches Unrecht, von dem die politische Kultur der Bundesrepublik trotz starker Gegenströmungen bis hinein in «die Welt von heute», das wiedervereinigte Deutschland und das 21. Jahrhundert, gezeichnet ist.

Empört über diese Lesart, ist mir (...) widersprochen worden: «Und was ist mit den NS-Prozessen vor bundesdeutschen Schwurgerichten – seit fast 50 Jahren?» Ja – was? Ich habe sie von Anfang an begleitet, also seit 1958, bis in die Ausläufer unserer Gegenwart – als Beobachter des Zentralrats der Juden in Deutschland, Berichterstatter der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung, als Fernsehmann und politischer Publizist.

Und wahrlich: eine gigantische justizielle Anstrengung – mit Mammutverfahren wie dem Frankfurter Auschwitz- oder dem Düsseldorfer Majdanekprozess. (...) Hauptangeklagt waren die untersten Glieder in der Kette des industriellen Massen-, Serien- und Völkermords, die kleinen Angestellten des Verwaltungsmassakers, die Tötungsarbeiter selbst, die nicht mehr sagen konnten, sie hätten «von nichts gewusst», da sie nachweisbar mit ihren Nagelstiefeln, ihren Knüppeln, ihren Pistolen gemordet hatten (...).

Nur – wo waren die Großen, die ihnen das «Menschenmehl» für die «Todesmühlen» zugetrieben hatten, wo die Planer, die Schreibtischtäter, die Köpfe der Berliner Mordzentrale Reichssicherheitshauptamt, die doch nicht alle Selbstmord begangen hatten? Wo die Wehrwirtschaftsführer, die Goldfasane der NSDAP, die Chefs der Gestapoleitstellen, die hohen und pflichtschuldigen Militärs, ohne die nichts, aber auch gar nichts gegangen wäre? Wo schließlich die antisemitischen Sudler der NS-Presse und die dunkelbraunen Leinwandhelden? (...)

Rechtsextremismus Es gab in der Geschichte der Bundesrepublik immer eine zeitgenössische Variante des Nationalsozialismus. Nie aber ist sie so offen hervorgetreten wie heute. Ihre Vertreter in Gestalt der extremen Rechten legen sich im Internet keinerlei taktische Zurückhaltungen mehr auf, sie übernehmen die Sprachschablonen des Dritten Reiches, bis hinein ins Wortwörtliche, und lassen ihrer Verfassungsfeindlichkeit freien Lauf. (…)

Sie setzen einen schon seit einiger Zeit höchst wirksamen Perspektivwechsel zur Geschichte des Dritten Reiches fort, der Deutschland als Opfer der Geschichte zelebriert und damit die tatsächlich furchtbaren Zivilverluste, die die Deutschen im Luftkrieg und am Ende des von Hitler und seinen Anhängern ausgelösten Zweiten Weltkrieges hatten, ideologisch missbraucht (...).

Sollte dem Rechtsaußenspektrum dazu ein charismatisches Idol erwachsen, stünden wir vor einer neuen Situation – selbst wenn nur eine partielle und keine vollständige Einigung der Rechten gelänge.

Und so hat sich denn für manche aus der jüdischen Gemeinschaft der Himmel über der Bundesrepublik verdüstert, drohen sich, nicht zu Unrecht, bange Zweifel in die Unerschütterlichkeit der demokratischen Republik einzuschleichen. Während die Sockel der etablierten Volksparteien abschmelzen, beherbergt das wiedervereinigte Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts den umtriebigsten und erfolgreichsten Rechtsextremismus nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. (…)

Versuchung Ich war bis Ende der 80er-Jahre als Fernsehmann in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas gewesen – und den großen Sozialproblemen dort jenseits aller touristischen Aspekte sofort unter der Haut: Hunger, Slums, Folter, Flüchtlinge, lokale und regionale Kriege, Ökonomie kontra Ökologie. (...) Und deshalb kann ich konstatieren: In der Welt von heute gibt es mehr Hunger als damals, mehr Slums, mehr Flüchtlinge, mehr kriegerische Krisenherde, mehr Folter – und ein Amazonasgebiet, das bereits zu 20 Prozent abgeholzt ist.

Welche Versuchung also, lauter Ausrufezeichen der Verzweiflung zu setzen – über die alltäglichen Toten zwischen Euphrat und Tigris und die am Hindukusch; den alltäglichen Antiamerikanismus in Deutschland, der so unverbraucht ist wie der Waffenwahn der US-Amerikaner; über die Folter, man höre, in 102 der 191 Mitgliedstaaten der UNO; verzweifelt zu sein auch darüber, dass das Neue Testament immer noch nicht offiziell zur Urquelle der historischen Judenfeindschaft erklärt worden ist, und schließlich über die unverfrorene Lüge, die Türkei gehöre zu Europa.

Und zu alldem entdecke ich, dass mich etwas ankriechen will, was ich bisher noch stets abweisen konnte – Gefühle von Hass. Den habe ich von Jugend an immer auf der «anderen Seite» gefunden, mich selbst aber für hassfrei oder hassunfähig gehalten (…). Jetzt aber spüre ich, dass da in mir eine ungewohnte emotio aufsteigen will – gegen die Praktiker einer neuen Art von Bedrohung der Welt von heute, die Zerstörer letzter Refugien, die Okkupanten bisher geschützter Freiräume und Verkünder der Vernichtungsphilosophie: «Ihr liebt das Leben – wir den Tod.»

menschlichkeit Mit dem Geständnis potenzieller innerer Verformung, und nach dem vorangegangenen höchst unvollständigen Katalog einstiger und zeitgenössischer Scheußlichkeiten, nenne ich nun endlich den Titel meiner Eröffnungsrede: «Von der Leistung, kein Zyniker geworden zu sein.» (…) Ich habe es überall angetroffen, dieses Mitmenschliche – in der Ausdauer, mit der ein nordirischer Katholik inmitten der sozialen und politischen Kraterlandschaft seiner Heimatstadt Belfast Witze erzählte; in der Hand, die mir ein Arbeiter im chilenischen Kupferbergwerk El Teniente entgegenstreckte; in der Würde, Freundlichkeit und distanzierten Bereitschaft einer Anden-Indianerin, sich von unserer frechen Kamera ablichten zu lassen.

Überall bin ich einem guten Wort begegnet, einem originellen Rat, habe ich Unbefangenheit angetroffen, Ehrlichkeit, persönliche Achtung. Überall – in den Dörfern des Mezzogiorno, im algerischen Atlas und in den filigranen Dörfern des überbevölkerten Java. Auch bei meinem palästinensisch-christlichen Patenkind Samar aus Beith Sahour bei Bethlehem, Israel – die neun war, als ich ihr godfather wurde, inzwischen nun aber 23 und gerade Mutter geworden ist (...). Unsere Verbindung hat den großen Streit der Region bis jetzt überstanden. (…)

Israel Nein, wir haben keine Zeit, Zyniker zu werden. Erhalten wir uns vielmehr – auch mit der Kraft des Wortes – das, woran Gewalttäter und Folterer aller Epochen sich nie gewöhnen werden: Öffentlichkeit! Niemand braucht sie so, wie wir Juden – von denen ich behaupte, sie seien nach wie vor so etwas wie die Seismografen der Weltgeschichte. Zum Ausklang deshalb noch ein Wort zu Israel. (...)

Kolleginnen und Kollegen, ich weiß nicht, wie Sie darüber denken – aber ich weigere mich, die Maßnahmen israelischer Regierungen zum Schutze ihrer Bürgerinnen und Bürger auf die gleiche Stufe zu stellen mit den hinterhältigen Anschlägen arabischer Terroristen – ich weigere mich kategorisch. Das ist kein Plädoyer für die von vornherein falsche Siedlungspolitik israelischer Regierungen nach dem Sechstagekrieg von 1967, ein Wahnsinn, der früh hätte erkannt werden können und der bis zu einem Bürgerkrieg eskalieren könnte.

Dennoch ist es Israel, das jene kostbaren Werte verkörpert, ohne die wir uns unser Leben nicht vorstellen können – Israel und nicht die arabisch-muslimische Staatenwelt: «Drück auf den Knopf, und du bist bei Allah» (...) «Allah verheirate mich mit 72 Jungfrauen, wenn ich töte» – so tönten arabische Prediger des Todes noch jüngst und ungestraft im deutschen Fernsehen.

Wer, verdammt noch mal, will mir einreden, dass es sich hier nicht um einen Kampf der Kulturen handelt? Und dass Israels Grundproblem darin besteht, dass es in diesem Kampf auf Leben und Tod eben seiner demokratischen Struktur und seiner humanen Grundsätze wegen eine keineswegs günstige Ausgangsposition hat? (…)

Nein, nicht der kleine Judenstaat wird es sein, von dem aus die großen Schatten über das 21. Jahrhundert fallen werden – fallen werden sie aus der Hemisphäre von 22 arabischen Ländern, die 50-mal mehr Menschen haben als Israel, 800-mal mehr Bodenfläche und die größten Anpassungs- schwierigkeiten beim Anschluss an die Moderne, ohne je die Ursachen dafür bei sich selbst zu suchen.

Weltbedrohung Den notorischen Israel-Anklägern aber in den Redaktionsstuben und Chefetagen der deutschen Print- und TV-Medien, die ich hier anspreche und angreife, rate ich, sich mit diesem aus einem Weltärgernis zu einer Weltbedrohung gemauserten Aspekt intensiver zu beschäftigen als bisher. Steht es doch nirgends geschrieben, dass Europa, dass Deutschland ein weißer Fleck auf der Landkarte des islamistischen Terrorismus bleibt. Israel aber ist bereits sein Zentrum – seit Langem. Und seine Demokratie hält immer noch. (…)

Wie hätte ich da zum Zyniker werden können, werden dürfen? Und wie das nach Erfahrungen, die ein langes Leben, bis hinein ins neunte Jahrzehnt, zur staunenden Voraussetzung haben?

Hat die Welt doch einmal gefürchtet, Hitler könnte triumphieren. Dennoch ist sein Reich zugrunde gegangen. Und ich, der nicht geglaubt hatte, dessen Ende zu erleben, kann es nun doch verkünden.

Auch hat es eine Zeit gegeben, da keine Macht stärker schien als der Gulag-Staat – aber ist er inzwischen nicht Geschichte und ich älter als seine historische Existenz? (...)

Das Unmögliche kann also möglich, kann wahr werden – Hoffnung für «Die Welt von heute – gut für Juden, schlecht für Juden?»

Der Text war die Eröffnungsrede auf dem Dritten Jüdischen Kongress, «Die Welt von heute – gut für Juden, schlecht für Juden?», auf Schloss Elmau, 2. bis 5. Dezember 2004. Er ist dem soeben erschienenen Band entnommen: Ralph Giordano: «Von der Leistung kein Zyniker geworden zu sein. Reden und Schriften über Deutschland 1999–2011», Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012, 392 S., 22,99 €

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