Mitte September 1945 herrscht eine ungewöhnliche Betriebsamkeit in Lüneburg, so schildert es der »Neue Hannoversche Kurier«. »Autos, welche die Kennzeichen der verschiedensten Länder tragen, fahren unaufhörlich vor, parken, fahren wieder fort, meist in die Richtung der großen Turnhalle, in der der große Belsen-Prozess stattfindet.« Am 17. September 1945 beginnt in der Halle das Verfahren gegen Mitglieder des Lagerpersonals von Bergen-Belsen - fünf Monate nach der Befreiung des Konzentrationslagers. Vor 80 Jahren wurden damit erstmals in einem großen Prozess die Gräueltaten der NS-Zeit vor Gericht gebracht.
Der britische Offizier und Militärarzt Hugh Llewellyn Glyn Hughes tritt als erster Zeuge der Anklage vor dem britischen Militärgericht auf, wie der Historiker John Cramer in einem Buch über den Prozess schreibt. Glyn Hughes schildert den Anblick, der sich den Briten bei der Befreiung des Lagers am 15. April 1945 bot: Menschen zu Skeletten abgemagert, katastrophale hygienische Bedingungen. Die Befreier fanden Tausende unbestatteter Leichen und Zehntausende todkranker Menschen. »Ich bin seit 30 Jahren Arzt und habe alle Schrecken des Krieges gesehen«, sagte Glyn Hughes: »Aber ich habe nie etwas gesehen, was dem gleichkommt.«
44 Frauen und Männer müssen sich im September 1945 beim Prozess verantworten
Während der NS-Zeit und in den Wochen nach der Befreiung starben in Bergen-Belsen rund 20.000 Kriegsgefangene und mehr als 52.000 KZ-Häftlinge. 44 Frauen und Männer müssen sich schließlich im September 1945 beim Prozess in Lüneburg verantworten, darunter Lagerkommandant Josef Kramer, Aufseherinnen und auch ehemalige Häftlinge mit Funktionärsstellung, sogenannte Kapos.
Mehr als 100 Medienvertreter seien angereist, schreibt Historiker Cramer. Das internationale Echo ist auch deshalb so groß, weil in Lüneburg noch vor Beginn der Nürnberger Prozesse ein Teil der Beschuldigten gleichzeitig wegen Verbrechen in Auschwitz angeklagt ist.
Lagerkommandant Kramer war zunächst Kommandant von Auschwitz-Birkenau gewesen. Auch die Aufseherin Irma Grese war nach der Auflösung der Vernichtungslager im Osten in das Frauenlager Bergen-Belsen gekommen. In Lüneburg sitzen ihnen und den anderen Tätern befreite Menschen gegenüber, die beide Lager überlebt haben. Sie berichteten von Gewaltexzessen, Schlägen, Erschießungen.
Unter den Überlebenden: Anita Lasker-Wallfisch
Unter den Überlebenden ist die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch, die heute über 100-jährig in London lebt. Sie ist 20 Jahre alt, als sie als Zeugin vor dem Gericht aussagt. »Damals war es vollkommen verstörend und verrückt für mich, dass es einen solchen Prozess überhaupt gab«, so beschrieb sie noch vor fünf Jahren, was sie empfand. In ihren Lebenserinnerungen schreibt sie: »Für uns, die wir Zeugen des gigantischen Massenmords waren, ließ sich ein solch normales und ordentliches Gerichtsverfahren kaum begreifen.«
Nach Ansicht des Historikers Cramer markierte der Prozess für die Briten auch den Versuch, zu rechtsstaatlichen Verfahren zurückzukehren. Dabei seien sie konventionell herangegangen - bei einem Verbrechen, dessen Dimension das Konventionelle bei weitem übersteigt. Fast demonstrativ werden in der Verhandlung die Rechte der Angeklagten gewahrt. Anders, als es die Anklage zunächst vorgehabt hatte, muss den Tätern die Beteiligung an den jeweiligen Gräueltaten einzeln nachgewiesen werden.
14 Angeklagte werden schließlich am 17. November 1945 freigesprochen, 19 zu Freiheitsstrafen verurteilt. Elf werden zum Tode verurteilt und später in Hameln hingerichtet - unter ihnen Josef Kramer und die 22-jährige Irma Grese. Reue zeigen die Angeklagten nicht. Viele Täter waren gar nicht erst angeklagt worden, denn sie hatten Bergen-Belsen bereits vor der Befreiung verlassen.
»Man erkennt zwar an, es war etwas Schlechtes. Aber es waren die anderen.«
Vor allem Kramer und Grese werden in der Presse als das personifizierte Böse dargestellt. »Blondes Biest mit kalten Augen« oder »Satans-SS-Weib« nennen Zeitungen Grese. Kramer wird als »Bestie von Belsen« bezeichnet. Der Historiker David Reinicke, der über die Täter geforscht hat, sieht in dieser Verteufelung Einzelner zugleich den Beginn einer Distanzierung der Bevölkerung von den NS-Verbrechen.
Dabei wollten die Briten mit dem Gerichtsverfahren auch einen Lernprozess in Gang setzen. So wurden Berichte des Radioreporters Axel Eggebrecht per Lautsprecher übertragen. Anwohner des KZ wurden gezielt zu dem Verfahren eingeladen, wie die Historikerin Diana Gring von der Gedenkstätte Bergen-Belsen recherchiert hat. »Mitte September 1945 erhielten alle Bürgermeister im Landkreis Celle eine schriftliche Anordnung, ausgewählte Bürger als Zuschauer zum Prozess nach Lüneburg zu schicken«, sagt sie. »Die Militärregierung, so hieß es in dem Schreiben, lege Wert darauf, dass sich ›Kreiseingessene‹ die Verhandlung anhören.«
Das System der arbeitsteiligen Vorgehensweise der NS-Verbrechen erfasste der Prozess nicht. Viele in Konzentrationslagern begangene NS-Verbrechen blieben auch später ungesühnt. Es ist wiederum ein Urteil aus Lüneburg, das Jahrzehnte später beispielhaft für eine geänderte Rechtsauffassung steht: Der Bundesgerichtshof bestätigte am 20. September 2016 die Verurteilung des früheren SS-Mannes Oskar Gröning durch das Landgericht Lüneburg zu einer vierjährigen Haftstrafe. Damit wurde erstmals eine Haftstrafe wegen Beihilfe zum Mord in Auschwitz rechtskräftig, ohne dass dem Verurteilten die unmittelbare Beteiligung konkret belegt werden musste.