Vor einem Jahr, am 19. Mai, haben wir Shani zu Grabe getragen. Zwei Tage vorher war in Gaza ihre Leiche gefunden und geborgen worden. Diese Tage im Mai sind naturgemäß Tage der Erinnerung. Nicht, dass wir die bräuchten. Denn wir denken jeden Tag an Shani und fragen uns, was sie wohl tun würde, wäre sie nicht am 7. Oktober 2023 auf dem Nova-Festival gewesen. Wir versuchen, positiv zu bleiben und nach vorn zu schauen. Das gelingt nicht immer.
Die Trauer kommt meist unvermittelt, und sie kommt in Wellen. Das wird wohl für den Rest unseres Lebens so sein. Meistens kommt sie, wenn man glaubt, dass gerade alles okay ist. Dann wird im Radio ein Lied gespielt, das uns an Shani erinnert. Aber so ist es eben. Wir müssen damit leben.
Ich habe vor Kurzem, nach 24 Jahren Berufstätigkeit, meinen Job an den Nagel gehängt. Mein Mann und ich sind viel im Ausland unterwegs, reden über Shanis Geschichte und darüber, was für eine tolle junge Frau sie war. Wir wollen so auch den vielen Menschen etwas Zuspruch und Hilfe spenden, deren Angehörige nach wie vor von der Hamas gefangen gehalten werden.
Auch deutsche Staatsbürger sind Geiseln in Gaza
Seit 600 Tagen sitzen ihre Lieben nun schon in dunklen Tunneln. Sie sind angekettet und werden nicht angemessen mit Nahrung oder Medikamenten versorgt. Wir wissen noch nicht einmal, wie viele von ihnen noch am Leben sind. Außerhalb von Israel, so kommt es mir manchmal vor, sind die Geiseln schon vergessen. Die Welt hat andere Sorgen.
Auch in meiner alten Heimat Deutschland haben viele Menschen schlicht vergessen, dass die Geiseln der Grund sind, warum es noch keinen Waffenstillstand in Gaza gibt. Sie haben auch vergessen, dass die Hamas weiter Krieg führt, dass sie weiter um sich schießt und noch längst nicht kapituliert hat. In den deutschen Medien gibt es nur wenig Anteilnahme an Israels Sorgen. Dabei sind auch deutsche Staatsbürger Geiseln in Gaza.
Wir spüren den wachsenden Druck auf Israel aus dem Ausland. Das geht bis hin zum Antisemitismus.
Hier in Israel ist der Blick auf die Lage in Gaza natürlich differenzierter. Es gibt Mitgefühl auch mit der palästinensischen Zivilbevölkerung. Und es gibt Kritik an der Regierung Netanjahu, unter anderem, weil die Geiseln immer noch nicht frei sind. Auch ich finde die Politik der Regierung höchst problematisch.
Vor allem aber gibt es hier in Israel einen großen Zusammenhalt. Nicht nur zwischen den Angehörigen der Opfer, sondern in der ganzen Gesellschaft. Der 7. Oktober ist für alle hier noch ganz frisch, als sei es erst gestern passiert.
Wir stecken fest. Wir spüren den wachsenden Druck auf Israel aus dem Ausland. Das geht bis hin zum Antisemitismus. Der Anschlag vergangene Woche in Washington verdeutlicht, wie schlimm die Lage mittlerweile ist. Wir fühlen uns alleingelassen. Doch niemand sollte sich etwas vormachen: Mehr Druck auf unsere Regierung wird nicht dazu führen, dass der Krieg schneller aufhört. Denn Druck auf Israel wird die Geiseln nicht zurückbringen. Dafür bräuchte es mehr Druck auf die Hamas. Gibt es den nicht, werden wir auch in einem Jahr noch in derselben Lage sein.
Auf die Hamas muss mehr Druck ausgeübt werden
Vor allem Katar müsste viel mehr tun, damit die Geiseln freikommen. Ich finde es sowieso schwierig, dass Katar Vermittler sein soll. Katar ist nicht neutral. Die Regierung dort steht auf der Seite der Hamas. Es ist auch keine kluge Politik des Westens, nur Israel an die Wand drücken zu wollen, die andere Seite aber mit Samthandschuhen anzufassen.
Je mehr Länder eingreifen und Druck ausüben, damit die Hamas die Waffen niederlegt, desto schneller kann dieser Krieg vorbei sein. Denn auch Israel leidet. Auch unsere jungen Leute kommen verletzt oder tot zurück. Fast täglich kommt es zu Raketenangriffen aus dem Jemen auf Israel. Keinen im Westen scheint das zu kümmern, zumindest so lange nicht, wie die Geschosse nicht in der Nähe des Flughafens einschlagen.
Wenn Anteilnahme durch Schweigen abgelöst wird, dann hat die Terrororganisation ihr übles Spiel gewonnen.
Leider wird auch die Berichterstattung über den Konflikt immer einseitiger und fehlerhafter. Es stimmt zum Beispiel nicht, dass es in Gaza keine Lebensmittel mehr gibt. Die Hamas hält Lebensmittel zurück, und die einfache Bevölkerung leidet.
Vielleicht war die israelische Blockade nicht die beste Lösung. Sie war ein verzweifelter Versuch, irgendetwas zu unternehmen. Ich kann nicht sagen, dass es erfolgreich oder richtig war. Aber man darf auch nicht die Hände in die Hosentaschen stecken. Sonst macht die Hamas einfach weiter wie bisher.
Wenn nicht mehr über die Geiseln gesprochen wird, wenn sich niemand mehr nach ihrem Schicksal erkundigt, wenn Anteilnahme durch Schweigen abgelöst wird, dann hat die Terrororganisation ihr übles Spiel gewonnen. Deshalb müssen sich alle mehr engagieren. Auch die deutsche Bundesregierung.
Die Autorin stammt aus Ravensburg und lebt in Israel. Ihre Tochter Shani Louk wurde am 7. Oktober 2023 von der Hamas ermordet und nach Gaza verschleppt.