Literatur

»Unsere Demokratie ist friedlos«

Herr Dalos, Sie haben am Mittwoch den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung bekommen. Wie ist es 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs um diese Verständigung bestellt?
Das sind gleich zwei Fragen. Zum einen: Wie verstehen sich die ehemaligen Ostblockländer untereinander? Das ist ziemlich kompliziert und sehr widersprüchlich. Zum anderen: Wie ist es innerhalb der einzelnen Gesellschaften um die Verständigung bestellt? Da gibt es neben bestimmten Ergebnissen wie dem Ausbau der europäischen demokratischen Strukturen auch große Probleme, besonders in Ungarn. Wir sind eine recht friedlose Demokratie geworden. In den vergangenen 20 Jahren haben sich zu viel Hass, Enttäuschung und Frustration bei uns angesammelt.

Lassen sich aus der Geschichte von 1989 Lehren ziehen für Ungarn heute?
Fast alle Lehren kommen zu spät. Ich glaube, die Demokratie in Ungarn war von Anfang an zu wenig sozial und nicht auf den Kapitalismus vorbereitet. Man dachte, die wirtschaftlichen Reformen würden relativ glatt vonstattengehen, so wie die politische Wende, die recht friedlich verlief. Außerdem fehlte es an Techniken, die damals noch nicht so virulenten, aber heute ziemlich starken rechtsradikalen Bewegungen zu bekämpfen.

Im April wählt Ungarn. Wie groß ist die Gefahr, dass die rechtsextreme Jobbik-Partei ins Parlament einzieht?
Jobbik wird wohl bis zu zehn Prozent der Stimmen bekommen. Aber die eigentliche Gefahr sehe ich nicht in der relativen Stärke der radikalen Gruppen, sondern in der Unfähigkeit der Demokratie, angesichts dieser Bedrohung rational und richtig zu handeln. Man muss wissen, wann etwas verboten werden sollte und wann etwas mit politischen Mitteln bekämpft werden muss. Die ungarische Demokratie ist schwach und unentschlossen.

Was bedeutet das für die jüdische Gemeinschaft im Land?
Die Radikalen neigen dazu, für die Fehler der Demokratie Sündenböcke auszumachen. In Ungarn sind das vor allem Roma und Juden. Beide Gruppen sind gefährdet. Die Propaganda der Jobbik-Partei und der Onlineausgabe der rechten Zeitung Magyar Hírlap erinnern stark an das Unwesen, das die Pfeilkreuzler in der Vorkriegszeit trieben. Ich bin sicher: Jetzt wird verbal gehetzt, aber es ist nicht mehr weit bis zu tätlichen Angriffen. Im Fall der Roma ist dies bereits geschehen.

Im Februar hat das ungarische Parlament immerhin ein Gesetz verabschiedet, das die Leugnung des Holocaust künftig unter Strafe stellt. Wird die neue Regelung das Land verändern?
Daran habe ich Zweifel. Gesetze allein bewirken wenig. Die junge Generation sollte mit anderen Mitteln an das Thema herangeführt werden. Ich befürchte, junge Leute wissen zu wenig über die ungarische Geschichte. Hier sind Schule und Medien gefragt. Man kann nicht nur Verbote erlassen, sondern muss auch entsprechend handeln und überzeugen.

Mit dem Schriftsteller und Historiker sprach Tobias Kühn.

Arlington (Virginia)

USA genehmigen Milliardenauftrag: Neue F-15-Kampfjets für Israel

Der Vertrag umfasst die Entwicklung, Integration, Erprobung, Produktion und Lieferung von zunächst 25 neuen Maschinen

 30.12.2025

Terror

Warum?

Die nichtjüdische Deutsche Carolin Bohl wurde am 7. Oktober 2023 von der Hamas brutal ermordet. Hier nimmt ihre Mutter Abschied von der geliebten Tochter

von Sonja Bohl-Dencker  30.12.2025

Einspruch

Solidarität mit Somaliland

Sabine Brandes findet Israels Anerkennung der Demokratie am Horn von Afrika nicht nur verblüffend, sondern erfrischend

von Sabine Brandes  30.12.2025

Meinung

Für mich ist es Nowy God – und warum ich ihn feiere

Das Neujahrsfest hat mit dem Judentum eigentlich nichts zu tun. Trotzdem habe ich warme Erinnerungen an diesen Feiertag

von Jan Feldmann  30.12.2025

London

Vorwurf gegen Facebook: Beiträge feiern Mord an Juden und bleiben online

»Die Beiträge, die den Anschlag von Bondi feiern, sind schlicht widerwärtig«, sagt Dave Rich von der jüdischen Organisation CST in England

 30.12.2025

Berlin

Tagung »Digitale Horizonte«: Wie sich Erinnerungskultur im digitalen Zeitalter wandelt

Wie verändert die Digitalisierung das kollektive Erinnern? Welche Chancen eröffnen neue Technologien – und wo liegen ihre Grenzen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Konferenz

 30.12.2025

Deutschland

Shahak Shapira »superverbittert« über Antisemitismus

Shahak Shapira spricht offen über seinen Frust angesichts von Antisemitismus in Deutschland – und wie er mit politischer Comedy darauf reagiert

 29.12.2025

Analyse

Warum die Anerkennung Somalilands so viel Aufsehen erregt

Das kleine Land am Horn von Afrika hat plötzlich eine große geopolitische Bedeutung. Dafür gibt es gute Gründe

von Ralf Balke  29.12.2025

Kommentar

Wer Glaubenssymbole angreift, will Gläubige angreifen

Egal ob abgerissene Mesusot, beschmierte Moscheen oder verwüstete Kirchen: Politik und Religion werden zurzeit wieder zu einem hochexplosiven Gemisch. Dabei sollte man beides streng trennen

 29.12.2025