Eklat

Streit der Nachbarn

Warum die Geschichtspolitik Russland und Polen entzweit

von Ralf Balke  16.01.2020 10:00 Uhr

Wladimir Putin auf der Jahrespressekonferenz am 19. Dezember 2019 in Moskau Foto: imago images/ITAR-TASS

Warum die Geschichtspolitik Russland und Polen entzweit

von Ralf Balke  16.01.2020 10:00 Uhr

Zwischen Polen und Russland kracht es auf dem diplomatischen Parkett derzeit gewaltig. Den Auftakt machten Äußerungen von Staatschef Wladimir Putin auf der Jahrespressekonferenz am 19. Dezember 2019. Dabei bezeichnete er den Molotow-Ribbentrop-Pakt zwischen der Sowjetunion und Hitler-Deutschland, der Polen zur Beute beider Diktaturen machen sollte, als eine gute Sache.

Darüber hinaus müsse man daran erinnern, so Putin, dass Warschau damals keinerlei Probleme mit der Zerschlagung der Tschechoslowakei gehabt hätte und sich sogar selbst Teile unter den Nagel riss. Aus seiner Sicht reiche das, um Polen eine Mitschuld am Zweiten Weltkrieg zu attestieren.

Berlin Nur einen Tag später legte Putin nach und bezog sich dabei auf Józef Lipski, von 1933 bis 1939 Warschaus Botschafter in Berlin. Dieser habe Hitlers Vorhaben, Europas Juden zu vertreiben, für eine gute Idee gehalten. So hatte der Diplomat sogar davon gesprochen, Hitler zu Ehren ein Denkmal in der polnischen Hauptstadt zu errichten, falls dies in die Tat umgesetzt würde – für Russlands Staatschef ein Beleg für die Partizipation Polens an der Schoa.

Am 24. Dezember legte Putin ein weiteres Mal nach, nannte Lipski einen »Drecksack, ein antisemitisches Schwein« und warf Polen vor, massive Geschichtsfälschung zu betreiben, »um Stalin und die Sowjetunion in den Dreck zu ziehen«, die Polen 1939 »nichts weggenommen« hätten. Polen reagierte erwartungsgemäß wenig begeistert. Warschau erklärte: »Wir sind bereit, Russlands Diplomaten die historische Wahrheit so lange wie nötig zu erklären.«

Warum beruft sich Putin auf Aussagen aus den 30er-Jahren?

Warum aber beruft sich Putin im Jahr 2020 ausgerechnet auf die Äußerungen eines polnischen Diplomaten aus den 30er-Jahren, und weshalb antwortet Warschau so verschnupft darauf?

Politik Gründe sind unter anderem in der Tagespolitik zu suchen. Putin reagierte damit auf eine Entschließung des EU-Parlaments vom 19. September über die »Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas«, die den Molotow-Ribbentrop-Pakt sowie Moskaus Bemühungen thematisierte, die Verbrechen der Sowjetunion schönzureden. Auch kam aus Warschau die Direktive, Denkmäler zu Ehren der Roten Armee zu entfernen, was Putin sehr erboste.

»Polen ist neben den baltischen Staaten eines der Länder im östlichen Europa, die Russland gegenüber wohl am kritischsten eingestellt sind«, betont Stephan Lehn-
staedt, Professor für Holocaust-Studien am Touro College in Berlin. »Man empfindet Russland dort eher als eine Bedrohung.« So positionierte sich Ministerpräsident Mateusz Morawiecki mehrfach gegen die Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2, weil Europa dadurch von Moskau erpressbar werde.

Verfolgung Zudem stehen wichtige Termine auf dem Programm: 75 Jahre Befreiung von Auschwitz und der Sieg über Hitler. Über all das gibt es derzeit ebenfalls Streit. »Für Polen war das keine Befreiung, sondern der Beginn einer zweiten Besatzung, die bis 1989 andauern sollte«, sagt Lehnstaedt. Deshalb bringt Warschau immer wieder die Geschichte in Stellung. »So baute man Witold Pilecki gezielt als neuen Nationalhelden auf.«

Der polnische Offizier hatte sich 1940 freiwillig nach Auschwitz deportieren lassen, um dort die Verbrechen der Deutschen zu dokumentieren. Nach 1945 kämpfte er gegen die Sowjets. »Doch dreht sich dabei alles um die Verfolgung von Polen und nicht um die von Juden«, betont Lehnstaedt. »Auch ging es keinesfalls um den Kampf gegen den Totalitarismus, sondern allein um den für die polnische Nation.«

Joanna Beata Michlic vom University College in London verweist in diesem Kontext auf Kontinuitäten. »Es ist sehr wichtig, daran zu erinnern, dass die Strategie, einen politischen Feind oder einen anderen Staat als antisemitisch zu bezeichnen, eine lange Tradition in der politischen Kultur Russlands hat«, sagt die Historikerin.

Antisemitismus Auf eine ähnliche Weise habe Putin bereits die antisemitische Karte gegen die Ukraine ausgespielt, um sie international zu diskreditieren. »Dabei sollten wir uns daran erinnern, dass die Sowjetunion als Vorgängerstaat des postkommunistischen Russland selbst eine lange Geschichte des Antisemitismus aufweist, der man sich bis heute noch nicht richtig gestellt hat.«

Auch die Skandalisierung der Person Lipskis müsse relativiert werden. »Schließlich gab es im Polen der Vorkriegszeit eine antisemitische Rechte, die noch ganz andere Dinge gesagt hat«, betont der Historiker Włodzimierz Borodziej. »Die Äußerungen Lipskis sind bereits unzählige Male zitiert worden. Dabei wird vergessen, dass in vielen europäischen Staaten Juden als Fremdkörper betrachtet wurden, die man gerne loswerden wollte. Das ist schon schlimm genug«, sagt der Professor an der Universität Warschau und ehemalige Direktor des Imre Kertész Kollegs Jena.

Moskau Selbst eine Person wie der polnische Botschafter habe dabei nicht an die physische Vernichtung gedacht. Zudem gehe es im Streit zwischen Polen und Russland um Geschichtsbilder. »Die Sowjetunion hat bis zum Jahr 1989 die Existenz des Geheimen Zusatzprotokolls, das Moskau unter anderem den Zugriff auf Teile Polens und des Baltikums ermöglichte, entweder stets geleugnet oder als Fälschung tituliert.«

Aber auch in Polen gibt es ein Problem mit der Selbstwahrnehmung. »Dort kennt man nur Opfer oder Helden.« Genau deshalb reagiere man in Warschau auf Hinweise über eine Beteiligung von Polen an der Schoa auch so gereizt.

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