Nach der Schoa wollten viele der wenigen überlebenden Juden Deutschland verlassen. Weg aus dem Land der Nazis, die in Europa rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet hatten. Eine Auswanderung jedoch konnte ein schwieriges Unterfangen sein. Unterstützung war gefragt: Am 19. Juli 1950, vor 75 Jahren, wurde in Frankfurt am Main der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet - als Interessenvertretung für die Übergangszeit bis zur Ausreise. Damals lebten nach Zentralratsangaben noch rund 15.000 Juden in Deutschland. Zu den Überlebenden stießen in den ersten Nachkriegsjahren Menschen aus dem Exil und Displaced Persons, die nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren konnten oder wollten.
Der Zentralrat blieb keine temporäre Institution und wurde zu einer etablierten Interessenvertretung, zunächst in der Bundesrepublik und später im wiedervereinigten Deutschland. Heute sitzt er in Berlin und ist vor allem im Zusammenhang mit der Erinnerung an die Opfer der Schoa und im Vorgehen gegen Antisemitismus bekannt.
Wurzeln in Deutschland
Nach seiner Gründung hatte der Zentralrat auch diejenigen im Blick, die in Deutschland blieben. Zum Beispiel, weil ihre Familien jahrhundertealte Wurzeln hier hatten. Dass es Jüdinnen und Juden gab, die sich nicht auf den Weg ins neu gegründete Israel oder in die USA machten, war in der internationalen jüdischen Gemeinschaft hoch umstritten.
»Eine ganz entscheidende Wegmarke war Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre. Da begann der Prozess, dass Juden dazu standen, bewusst in Deutschland zu leben. Das hatte sich unter dem damaligen Präsidenten Werner Nachmann gewandelt: Man konnte, ohne rot im Gesicht zu werden, sagen: Ja, ich lebe bewusst in Deutschland«, so Zentralratspräsident Josef Schuster im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) mit Blick auf einen seiner Vorgänger. Auch Schusters Familie floh vor den Nazis, er kam 1954 im israelischen Haifa zur Welt und als Zweijähriger mit seiner Familie zurück.
Auch andere an der Spitze des Zentralrats hatten familiäre Fluchtgeschichten oder überlebten Konzentrationslager und Verstecke. Charlotte Knobloch, die bisher einzige Präsidentin (2006-2010), entging den Nazis als Kind unter falscher Identität bei einer katholischen Familie. Ignatz Bubis, Chef des Zentralrats von 1992 bis 1999, ließ mit einem richtungsweisenden Satz keinen Zweifel an seinem Selbstverständnis: »Ich bin deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens.«
105 Gemeinden mit 100.000 Mitgliedern
Heute ist der Zentralrat Dachverband von 105 Gemeinden mit etwa 100.000 Mitgliedern. Zum Vergleich sagt Schuster: »1990 hatten wir knapp 28.000 Mitglieder bundesweit.« Was war passiert? In den 90er Jahren wuchsen oder entstanden jüdische Gemeinden durch den Zuzug von Menschen aus der Ex-Sowjetunion, den »Kontingentflüchtlingen«. Es entwickelte sich das, was Schuster ein »stabiles, gesundes jüdisches Leben« nennt.
Damit es auch finanziert wird, handelte der Zentralrat einen Staatsvertrag mit aus, der öffentliche Zuwendungen regelt. 2003 unterschrieben Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Zentralratspräsident Paul Spiegel dieses Dokument. Für die Politik ist der Zentralrat mit seinen Landesverbänden außerdem Partner im Vorgehen gegen Antisemitismus und im Kampf gegen Altersarmut, etwa unter einst zugewanderten Jüdinnen und Juden.
Zum Zentralrat gehören auch Institutionen wie die Jüdische Studierendenunion Deutschland, die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, das noch junge Militärrabbinat und die geplante Jüdische Akademie in Frankfurt. Gremien sind darüber hinaus eine orthodoxe und eine nichtorthodoxe Rabbinerkonferenz sowie eine Stiftung: Sie trägt neue Ausbildungsstätten in Potsdam für Rabbinerinnen und Rabbiner, Kantorinnen und Kantoren.
Öffentlicher Streit
In diesem Zusammenhang erfuhr in den vergangenen Jahren auch die interessierte Öffentlichkeit, dass es durchaus Gräben in der jüdischen Gemeinschaft gibt - die, wie die Gesamtgesellschaft auch, mitnichten homogen ist. Da ging es um den Streit über die Rabbinerausbildung in Potsdam. Und darum, dass sich nicht alle Jüdinnen und Juden durch den Zentralrat vertreten fühlen oder Mitglieder in einer seiner Gemeinden sind. Weil sie zum Beispiel säkular leben oder weil sie einer Gemeinde unter dem Dach der Union progressiver Juden angehören. Diese versteht sich als Vertretung progressiver/liberaler Jüdinnen und Juden. Schon mehrmals geriet die Union mit dem Zentralrat in Streit: neben der Rabbinerausbildung zum Beispiel auch über die Frage eines eigenen Staatsvertrags.
Von verschiedener Seite wird dem Zentralrat auch vorgeworfen, nicht alle religiösen Ausrichtungen innerhalb des Judentums gleichrangig zu vertreten. Schuster kontert: Der Zentralrat fördere etwa eine liberale Rabbinerausbildung und habe unter seinem Dach die nichtorthodoxe Rabbinerkonferenz. »Seit dem Ende der Schoa sind die Gemeinden aber insgesamt eher traditionell ausgerichtet, doch das ist ihre eigene Entscheidung, die sich an den Neigungen ihrer Mitglieder ausrichtet.«
Die großen Herausforderungen sind für Schuster vor allem der Kampf gegen Antisemitismus und für Demokratie: »Da sehe ich dunkle Wolken am Himmel.« Außerdem müssten die Gemeinden gestärkt - und engagierter Nachwuchs gewonnen werden.