Antisemitismus

Spuren des Hasses

Als Uwe Dziuballa an diesem Morgen radelnd sein Restaurant »Schalom« erreicht, erwarten ihn neue Spuren des Hasses. Glas von allen fünf Lampen liegt vor dem Eingang, die Fassungen sind herausgebrochen. Aus dem eingetretenen Briefkasten kriecht eine Urinspur, Speichel klebt an der Eingangstür. Ein älteres Paar auf dem Gehweg hält kurz inne. »Guck mal«, sagt der Herr, »das sieht ja aus wie im Saustall.« Dann wechseln beide die Straßenseite. Uwe Dziuballa, 45, beugt den wuchtigen Körper über einen Tisch in seinem Restaurant, der Plauderton wird scharf. Geschämt habe er sich, sagt er. Dann bricht es aus ihm heraus: »Ich stand da und hatte die Schnauze voll.« Er wiederholt das zwei Mal. »Ich war genervter als bei den vier Reifen, die sie am Lieferwagen zerstochen hatten. Genervter als bei dem Schweinekopf, der vor der Tür lag.« Er habe wieder mal den Herrn vom Staatsschutz angerufen. Der sei dann auch gekommen und habe Fotos gemacht. Einen Koffer zur Spurensicherung habe er nicht dabeigehabt. »Da war Urin und Spucke. Aber wenn man Spuren nicht sicherstellt, kann man auch keine auswerten.« Dziuballa lacht bitter. Die Polizei erklärt, Flaschenscherben seien zur Beweissicherung mitgenommen worden.

Schmierereien Der Gastronom hat eine Leidenschaft für Zahlen. Über vieles führt er Statistik, es ist seine Art, die Welt zu begreifen. In zehn Jahren hat er 77.918 Gäste im Restaurant gezählt, das er mit seinem Bruder Lars Ariel betreibt. Und 35.900 gegrillte Hühnerbrüste, mehr als 82.400 geöffnete Kronkorken sowie 385 Kulturveranstaltungen. Und er hat in dieser Zeit 1.492 Drohanrufe gezählt. Manchmal hört er am Telefon nur den Atem oder eine Stimme sagt: »Wir wissen, wo du wohnst. Du wirst nicht mehr lange leben. Verschwindet! Jude verrecke!« Im Briefkasten fand er Schreiben mit Hakenkreuz und Reichsadler. »Judentum ist keine Religion, sondern ein Verbrechen«, steht auf einem Papier ohne Absender. Ein »Patriot, Chemnitz« dichtet: »Mach auf die Tür und rude, werft raus das Übel Jude!« Anfangs habe er der Polizei alles gemeldet, so Dziuballa – Anrufe, zerstochene Reifen, rausgerissene Blumen, Schmierereien. Er zeigt Fotos. Die Schreiben vom Staatsanwalt kennt er auswendig: Das Ermittlungsverfahren wird eingestellt, weil der Täter bisher nicht gefunden werden konnte. Dann hat er eine Weile nichts mehr gemeldet. Jetzt wieder. Die Polizei sagt, das »Schalom« sei »präventiv besonders im Blick«. Verhindern konnte sie die vielen Übergriffe aber nicht.

Partisan In Karl-Marx-Stadt geboren, verbrachte Uwe Dziuballa seine Kindheit mit den Eltern in Belgrad. Im Fernsehen liefen Heldengeschichten über Partisanen, mit den Jungs spielte er Krieg. Er war acht oder neun Jahre alt, als er seinem Vater stolz vom Sieg über die feindliche Partisanen-Bande berichtete. »Papa«, sagte er, »ich bin jetzt Obersturmbannführer.« Das Wort hatte er aufgeschnappt. Ohne zu wissen, dass es einen Rang der SS bezeichnet. Als er es aussprach, schlug der Vater zu, Uwe stürzte, der Vater lief weinend weg. Sein Triumph, der Schlag, die Tränen. Der Junge verstand gar nichts. Danach wurde er in die Familiengeschichte eingeweiht. Er erfuhr, dass sein Großvater mit 27 Jahren erschlagen, viele Verwandte ermordet worden waren: »Zwei Tage später wurde ich Partisanen-Kommandant.«
Das Judentum lernte er kennen, Geschichten über Israel und die Kibbuz-Bewegung. Aber religiös war der Mann, der heute eine Kippa trägt, lange nicht. In der DDR studierte er Elektrotechnik.

Gehen oder bleiben? Als die Mauer weg war, machte er in Köln eine Ausbildung bei der Deutschen Bank, wurde abgeworben, verkaufte in New York und Miami Geldanlagen. Ihm gefiel, wie »normal egal« es war, als Jude in Amerika zu leben. Als sein Vater erkrankte, kehrte Dziuballa zurück. Kurz darauf starb der Vater, 57 Jahre alt, an Krebs. 1994 war das. »Ein Schlüsselerlebnis«, so Dziuballa. Die Brüder entdeckten den Glauben. Lars Ariel studierte bei Rabbinern in Israel. Er selbst ist nun der Familienälteste, der Tradition folgend verantwortlich für Mutter und Bruder. Sie diskutierten: bleiben oder weggehen? Sie blieben in Chemnitz, gründeten den Verein »Schalom«, hielten Vorträge in Schulen, später eröffneten sie ihr Restaurant.

Freitagmittag. In wenigen Stunden beginnt der Schabbat. Das Restaurant bleibt geschlossen. Dziuballa geht mit seiner Frau spazieren, um Ruhe zu finden. Der Bruder wird das koschere Brot backen, sie werden sich bei der Mutter treffen, gemeinsam essen, beten, singen und reden. Seit vielen Jahren machen sie das so, jeden Freitag. Ein Familienglück, das immer wieder jäh gestört wird, alle paar Tage oder Wochen.

Spuren Dziuballa wirft das großformatige Foto von dem Schweinekopf, der vor der Tür lag, auf den Tisch. »Der muss ja angefasst worden sein. Das Tier war vielleicht irgendwo registriert.« Mit dem Finger tippt er auf den blauen Davidstern, der auf die Überreste geschmiert ist. Fragt, was das wohl für eine Farbe ist. Worte stocken, bevor sie sich überschlagen. Die Ermittlungen schildert er so: Am Telefon habe ihn ein Polizist gefragt, ob er den Schweinekopf vorbeibringen könne. Nach seinem Einwand, dadurch würden Spuren zerstört, seien doch noch Beamte gekommen und hätten den Kopf mitgenommen. »Doch er ist leider nie im Kriminaltechnischen Labor angekommen«, sagt der Restaurantchef. »Mir wurde mitgeteilt, er sei in der Tierkörperverwertung gelandet und verbrannt worden. Da verliert man die Lust, neue Taten zu melden.« Polizeisprecher Fischer bestätigt: Das Schwein wurde nicht im Labor untersucht, sondern vernichtet. Der Täter hätte alle Merkmale zur Herkunft des Kadavers entfernt. Von Dziuballa erhoffe man sich »mehr Kooperationsbereitschaft«.

Das »Schalom« und sein Chef sind über Chemnitz hinaus bekannt. Bei der Kommunalwahl trat Uwe Dziuballa für die SPD an. Man könnte vermuten, das garantiere Solidarität, zumal Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig in der SPD ist. Hat die Politik ihn unterstützt? »Nichts, gar nichts kam von denen«, sagt Dziuballa. »Ich empfinde keine Wut, aber grenzenlose Ernüchterung.« Auf Veranstaltungen nehmen ihn Politiker beiseite: »Muss das denn öffentlich gemacht werden? Das wirft doch ein schlechtes Licht auf die Stadt.«

Privatmann Die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Chemnitz, Ruth Röcher, sagt, bei ihnen habe es schon sehr lange keine Schmähungen mehr gegeben: »Darüber sind wir sehr froh.« Offenbar ist ein jüdischer Privatmann schutzloser als die Gemeinde. Allerdings warfen Mitte April dieses Jahres Unbekannte Steine auf die Synagoge in der Stollberger Straße. Die jahrelange Ruhe könnte trügerisch sein. Man fragt sich, warum Dziuballa weitermacht. Bis heute hat er Schäden in Höhe von 39.741,63 Euro errechnet. Nach dem letzten Übergriff organisierten Chemnitzer eine Mahnwache. Dziuballa sah in der Kälte Gäste des »Schalom« ausharren, auch Unbekannte, las auf Schildern, dass er mit dem Restaurant willkommen sei. »Ich hätte nicht gedacht, wie gut mir das tut.« Eigentlich sehnt er sich nach Normalität.

Tomatensuppe Er erzählt, wie ein Herr in seinem Restaurant eine Tomatensuppe aß. »Die jüdische Tomatensuppe ist wie die Liebe«, sagt Dziuballa, »sie fängt süß an und wird nach unten immer schärfer.« Er erkannte am Gesicht des Gastes, dass ihm die Suppe nicht schmeckte und fragte nach. Nein, nein, alles bestens, wehrte der Mann ab. Dziuballa blieb hartnäckig: Sprechen Sie bitte ganz offen. Derart ermutigt sagte der Mann: »Ich will nicht antisemitisch erscheinen, aber die Suppe hat mir nicht so geschmeckt.« Uwe Dziuballa hat ihm versichert, dass Kritik an der Pfeffermenge kein Antisemitismus sei. Der Gast kommt seitdem regelmäßig, isst aber keine Tomatensuppe mehr.

Ein glücklicher Moment wäre, wenn einer die Suppe kritisieren würde, ohne zu überlegen, wie er das dem Juden am besten sagt. Um dieser Normalität näherzukommen, macht Dziuballa weiter. Darum wird das frisch geritzte Hakenkreuz auf der Toilette überpinselt, sagt er, schließt die Eingangstür mit dem hässlichen Riss im Glas hinter sich ab und geht in den Schabbat.

Extremismus

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