Berlin

Soziale Medien: »TikTok-Intifada« und andere Probleme

Zentralratspräsident Josef Schuster mit Staatsministerin Natalie Pawlik Foto: Gregor Matthias Zielke

Knapp zwei Jahre nach dem 7. Oktober 2023 ist das Thema aktueller denn je: »Digitale Brücken, digitale Brüche: Dialog in Krisenzeiten«. Es ist so relevant, dass die Denkfabrik Schalom Aleikum in Berlin eine Fachtagung darüber veranstaltete. Der Präsident des Zentralrates der Juden, Josef Schuster, nahm daran ebenso teil wie Staatsministerin Natalie Pawlik, die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration.

Das behandelte Thema treffe »den Nerv unserer Zeit«, sagte Schuster vor den Teilnehmern. »Es geht um Polarisierung und gesellschaftlichen Zusammenhalt im digitalen Raum. Soziale Medien eröffnen zwar Möglichkeiten für Austausch. Doch wir sehen ebenso, wie sie immer häufiger auch zum Schauplatz von Hass, Hetze und ganz gezielter Desinformation werden.«

Diese Prozesse, so der Zentralratspräsident, blieben nicht im virtuellen Raum. »Sie haben unmittelbare Folgen im analogen Alltag, in unserem Zusammenleben hier in Deutschland. Gerade Minderheiten spüren diese Folgen besonders stark.« Er machte klar, dies betreffe sowohl Juden als auch »Muslime, Drusen, Aleviten oder geflüchtete Christen, die heute in unserem Land leben«.

Räume für Dialog

Das Problem habe erhebliche Implikationen – und dies nicht nur für Individuen: »Ganze Communities geraten unter Druck, wenn sie in den sozialen Medien diffamiert oder verspottet werden«, erklärte Schuster. »Aber es kann und darf nicht allein ihre Aufgabe sein, sich gegen den Hass zu stemmen. Vielmehr trägt die gesamte Gesellschaft Verantwortung, solchen Entwicklungen entgegenzutreten, denn sie schadet jedem von uns.«

An dieser Stelle werde die Rolle von Projekten wie der Denkfabrik Schalom Aleikum besonders sichtbar. Sie schüfen Räume für Dialog, stärkten den gesellschaftlichen Zusammenhalt und wirkten Vorurteilen und blindem Hass entgegen. »Damit knüpfen sie an eine uralte jüdische Lehre an: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«. Damit zitierte Schuster die Tora (3. Buch Mose 19,18).

Wer auf der Fachtagung miteinander ins Gespräch komme, nehme etwas davon mit zurück in die eigenen Institutionen, in Gemeinschaften und in das persönliche Umfeld: »Jede und jeder von Ihnen wird so zum Multiplikator«, so Schuster. Auf diesem Effekt bauen von der Denkfabrik Schalom Aleikum organisierte Zusammenkünfte von jüdischen und muslimischen Berufstätigen auf.

Laura Cazés (M.) mit Ilanit Spinner und Navid WaliFoto: Gregor Matthias Zielke
Raueres Klima

Staatsministerin Pawlik, die das Projekt des Zentralrates fördert, lobte das Vorhaben. Die Pflege des jüdisch-muslimischen Dialoges in unserer Gesellschaft sei »etwas ganz, ganz wichtiges«. Mehr Räume, wo Menschen zusammenkämen, die vielleicht ansonsten nicht zusammengekommen wären, würden gebraucht.

»Gerade der Bereich Migration, Flüchtlinge und Integration, aber auch der Antirassismus-Bereich ist sehr polarisiert in unserer heutigen Gesellschaft«, erklärte Pawlik. Es gebe große Herausforderungen, darunter auch diese: »Das gesellschaftliche Klima wird immer rauer und kippt. Deswegen sind wir alle gefordert, uns mit Debatten über unsere Gesellschaft auseinanderzusetzen, sie aber auch zu versachlichen.«

In der Debatte um Asyl, Einwanderung und Integration laufe nicht alles gut, so die Staatsministerin. Sie wolle das Verbindende stärken und kündigte Projekte an, die dazu beitrügen, »dass uns der Zusammenhalt in unserem Land gelingt und dass wir die Herausforderungen, die Hürden, vor denen wir stehen, gemeinsam überwinden.«

»Gesamtgesellschaftliche Aufgabe«

»Ich glaube, dass es sehr, sehr wichtig ist, dass wir für ein gesellschaftliches Klima in unserem Land sorgen, in denen sich Menschen angenommen fühlen, indem sie teilhaben können und in dem nicht das Ressentiment regieren darf«, sagte Pawlik. Der Hass im Netz, Fake News und Desinformation stellten erhebliche Probleme dar, denen sie mit geeigneten Initiativen entgegentreten wolle. Es gehe darum, jungen Menschen Wissen zu vermitteln – und dies gerade auch im Umgang mit Desinformation.

Bei deren Bekämpfung komme es darauf an, »dass wir gemeinsam schauen, wie wir vorankommen«. Es reiche nicht aus, »wenn sich betroffene Menschen alleine damit auseinandersetzen, sondern das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.«

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Schwierige Ahnung

Im Panelgespräch erwähnte Schuster auch die Massaker der palästinensischen Terrororganisation Hamas vom 7. Oktober 2023. Seither verstärkten sich »antiisraelische und gleichzeitig antijüdische Ressentiments, antijüdische Vorurteile und antijüdische Hetze in den sozialen Medien«.

Es sei relativ einfach, diese zu verbreiten, denn man müsse dafür nicht immer mit Klarnamen arbeiten. Schuster wies auf ein seit den Anschlägen beobachtetes Phänomen hin: Immer öfter verbreiteten Internet-User ihren Hass mit Klarnamen: »Also man hat nicht mal mehr Scheu, offen zu beleidigenden, eindeutig diskriminierenden Aussagen zu stehen« – und zu Inhalten, die Lügen darstellten.

Ein weiteres Problem sei die Tatsache, dass sich viele Server, auf denen diese Hassbotschaften aufliefen, nicht in Deutschland befänden, sondern in den Vereinigten Staaten. Schuster kritisierte, dass in den USA »freedom of speech«, also die Meinungsfreiheit, so hoch gehalten werde, dass sich eine Ahndung schwierig gestalte.

Schulen und Lehrkräfte

Staatsministerin Pawlik stimmte dem zu. »Wir haben aber als Europa mehr Einfluss als ein einzelner Staat. Und da haben wir mit dem Digital Service Act etwas auf den Weg gebracht, wo wir politisch gemerkt haben: Das stößt auf Widerstände, zum Beispiel in den USA.« Die Social-Media-Plattformen müssten dringend verpflichtet werden, rechtswidrige Inhalte zu löschen. Dies gelte für Hass und Desinformation.

Um dem Online-Hass entgegenzuwirken, plädierte Schuster erneut für einen Ansatz in der Bildung: »Die Schulen und die Lehrkräfte sind gefordert, die dieses Thema viel früher angehen müssen.« Dafür seien Ausbildungsmaßnahmen für Lehrer erforderlich.

Bei der Tagung der Denkfabrik Schalom Aleikum stellte deren Wissenschaftlicher Mitarbeiter Paul Kobusch Erkenntnisse vor, die sich aus einer nicht repräsentativen Befragung von jungen Juden, Muslimen und Christen ergaben, in deren Rahmen auch zahlreiche Social-Media-Konten ausgewertet wurden.

Paul Kobusch spricht über aus Befragungen von Usern gewonnene Erkenntnisse.Foto: GREGOR MATTHIAS ZIELKE
Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten

Ein respektvoller Austausch online wird demnach für viele User immer schwieriger. Dieser erfordere eine Moderation und das Blockieren von Kommentatoren, die Hass und Lügen verbreiteten. Gerade jüdische Nutzer beobachteten eine starke Zunahme des Judenhasses und der Hassrede generell.

Verbale Aggression wird laut Kobusch durch einen Mangel an persönlicher Nähe im Internet begünstigt. Dennoch werden Social Media von jungen Juden verstärkt genutzt, um »ein differenziertes und facettenreiches Bild« des Judentums zu verbreiten. Stereotype aufzubrechen, sei das Anliegen vieler jüdischer User. Sie verbreiteten unter anderem jüdische Geschichte, jüdische Identifikation, aber auch Humor und Alltägliches. Letztere Themen eignen sich für das Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten zwischen jungen Vertretern verschiedener Communitys oder Religionen.

Die Probleme, mit denen pro-demokratische Muslime in den sozialen Medien konfrontiert seien, würden sich zum Teil von denen gleichaltriger Juden unterscheiden. Auch sie sehen Kobusch zufolge online einen Raum, der es ihnen erlaubt, ihre Identität auszudrücken, Vorurteilen entgegenzuwirken und die Vielfalt des muslimischen Lebens zu zeigen. Islamistische Akteure versuchten allerdings, den Diskurs für sich zu vereinnahmen.

Laute Salafisten

Im Rahmen der eintägigen Tagung diskutierten auch Laura Cazés von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und Navid Wali vom Violence Prevention Network. Hier ging es um das Thema »Soziale Medien und gesellschaftlicher Zusammenhalt«. Diese Medien würden auch als Terrorwaffe genutzt, sagte Cazés. Die »TikTok-Intifada« habe schon lange vor dem 7. Oktober 2023 begonnen, nämlich im Jahr 2021.

Hochgeladene Äußerungen vermischen sich ihr zufolge zunehmend auch mit rechtsextremen Narrativen. Ein »toxischer Cocktail« werde den Nutzern von Islamisten und anderen Extremisten serviert.

Wali schilderte Schwierigkeiten pro-demokratischer Muslime. Sie würden demnach schon aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert, unabhängig von ihrer Einstellung. In der muslimischen Community sei der kleine Anteil der Salafisten so laut, dass einige User annähmen, es handle sich um den Mainstream.

Workshops sowie ein Panel über Regulierung und Gesetzgebung in der Medienpolitik rundeten den Tag in Berlin ab. ja

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