Schalom Aleikum

»Man kann hier viel gestalten«

Lieber Igor Matviyets, Sie sind in der Ukraine geboren, im Saarland aufgewachsen und leben heute in Halle an der Saale. Dort sind Sie auch Mitglied der Jüdischen Gemeinde. In Halle kam es im Jahr 2019 an Jom Kippur zu einem Anschlag auf die Synagoge. Hat dieser Anschlag, der zwei Todesopfer forderte und zu den erschütterndsten Gewaltakten der Nachwendezeit zählt, Ihr Leben verändert?
Igor Matviyets: Natürlich. Ich selbst war an diesem Tag nicht in der Synagoge. Mein Verhältnis zur Gemeinde ähnelt dem eines Christen, der Kirchensteuer zahlt, aber nur an Weihnachten in die Kirche geht. Aber ich wusste, dass bis zu jenem 9. Oktober 2019 die Sicherheit rund um die Synagoge unzureichend war. Nur ehrenamtlich und ohne Polizeischutz – obwohl es in Halle schon seit Langem eine aktive rechtsextreme Szene gibt. Ich wusste also, dass es eine latente Gefährdung gab, aber dieses Ausmaß an Gewalt hat mich dennoch sehr erschüttert. Es hat mein Verhältnis zur Stadt verändert. Seither beschäftigen wir uns viel mit den Feindbildern von Rechtsextremen, fragen nach dem Stellenwert der Sicherheit von Glaubensrichtungen, aber fragen auch, wie die Politik mit solchen Fragen umgeht – oder eben nicht. All das prägt mein Leben seither. Leider.

Mara Klein, Sie haben damals in Halle studiert. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Tag?
Mara Klein: Sehr viele! Das war ein heftiger Tag. Und er hat die Stadt verändert, auch weil man an den Orten des Anschlags wie dem Kiezdöner, in dem ein nichtjüdischer Mensch ermordet wurde, ja ständig ist und immer daran erinnert wird, was dort passiert ist. Auch steht jetzt immer eine Polizeiwache an der Synagoge. Es gibt also eine ganz andere Aufmerksamkeit für das jüdische Leben in Halle. In meinem Freundeskreis ist das Thema von antisemitischer Gewalt und antimuslimischem Rassismus viel größer geworden. Aber ich gebe auch zu, dass ich glaube, dass viele nicht verstanden haben, wie sehr die Tatmotive aus der Mentalität des Ortes kamen und wie stark der Täter mit den dortigen Netzwerken verwoben ist. Kurz nach dem Anschlag gab es übrigens einen ökumenischen Gottesdienst, bei dem die Stadtkirche und der Marktplatz voller Menschen waren.
Matviyets: Ja, das stimmt. Aber in der Marktkirche hängt trotzdem noch ein großes Bild, das die Vertreibung der Juden aus Halle zeigt.
Klein: Martin Luther ist in Halle sehr präsent, obwohl er für seinen Antisemitismus bekannt ist. Die Universität ist beispielsweise nach ihm benannt. Ich arbeite mittlerweile in Münster und pendele nach Halle. Hier in Münster wurde die Universität unbenannt. Auch in Leipzig heißt die Universität ja nicht mehr wie zu DDR-Zeiten nach Karl Marx. In Halle jedoch besteht man auf Luther.
Azim Semizoglu: Ich war damals gerade in Köln, aber als ich von dem Anschlag hörte, war ich sofort höchst alarmiert. Ich wusste ja, dass die Stadt nicht weit von Leipzig, wo ich wohne, entfernt ist. Das war ein schmerzhafter Moment. Als ich 2011 nach Leipzig zog, hatte ich schon Angst, im Osten auf einen verstärkten Rassismus zu treffen. Dieser Tag fühlte sich also so an, als würde einem die Realität ordentlich auf die Fresse hauen.

Lieber Azim Semizoglu, Sie sind zum Studium von Hessen nach Leipzig gezogen. Wie haben eigentlich Ihre Eltern reagiert, als sie zum ersten Mal von Ihren Plänen erfuhren?
Semizoglu: Sie waren traurig und sehr skeptisch. Nicht nur, weil ich in den Osten wollte, sondern auch, weil Leipzig von Darmstadt weit weg ist. In deutschtürkischen Familien ist es eher üblich, dass die Kinder in der Nähe bleiben. Alle meine Freunde aus Gastarbeiterfamilien sind in der Region geblieben. Sie fragten mich: Was willst du denn bei den Rechten? Diese Frage hat mich überrascht, weil wir vorher eigentlich nie über den Osten gesprochen hatten. Inzwischen aber haben meine Eltern verstanden, dass ich mich in Leipzig wohlfühle und heimisch geworden bin.
Matviyets: Ich bin aus Heidelberg nach Halle gezogen, aber weder für meine Eltern noch für mich war es damals ein großes Thema, dass ich in den Osten gehen würde. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass meine Familie aus der Ukraine stammt. Mir erschienen die Vorbehalte zwischen Ost und West eine innerdeutsche Angelegenheit zu sein. Erst als ich im Büro des heutigen Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby zu arbeiten begann und die Anfeindungen gegen ihn erleben musste, ist mir diese Realität klar geworden.

Leipzig ist eine Stadt, die entgegen dem ostdeutschen Trend seit einigen Jahren wieder wächst. Dennoch haben Sie, Herr Semizoglu, eine ähnliche Erfahrung gemacht. Als Sie nach Leipzig kamen, gab es kaum migrantische und postmigrantische Strukturen. Deshalb haben Sie den Verein »Haus der sozialen Vielfalt« gegründet. Einen Verein, der sich vor allem um Kinder und Jugendliche kümmert.
Semizoglu: Anfangs fühlte ich mich in Leipzig ziemlich allein. Es war so, als hätte ein Teil von mir, also die Herkunft meiner Familie aus der Türkei und meine Religion, hier weder einen Ort noch einen Raum. Zu Hause gab es einerseits das Elternhaus, in dem der Glaube selbstverständlich gelebt wurde, aber es gab auch die Gemeinden. In den größeren Städten Westdeutschlands hat jede Community ihre eigene Gemeinde, die gleichzeitig auch ein kultureller Ort ist. In unserer Gemeinde in Darmstadt gab es natürlich einen Raum für uns Jugendliche, wo wir uns treffen konnten und alles andere, nur nicht gebetet haben.

Damit beschreiben Sie die individuelle Ebene.
Semizoglu: Keineswegs, denn dadurch fehlen auch die Strukturen auf zivilgesellschaftlicher und politischer Ebene. Das habe ich vor allem nach 2015 gemerkt. Da wurde eine Stadt wie Leipzig zum ersten Mal mit der breiten Anwesenheit von Musliminnen und Muslimen konfrontiert, und gleichzeitig wurde der Rechtsruck in Teilen der ostdeutschen Gesellschaft immer sichtbarer. Damals habe ich gemeinsam mit Freundinnen und Freunden das »Haus der sozialen Vielfalt« gegründet, um Jugendlichen genau den Raum zu geben, den ich in Leipzig nicht vorfand. Dort können sie über Themen reden, über die sie zu Hause nicht reden können.

Wie stark prägt der Atheismus denn Ostdeutschland wirklich?
Semizoglu: Ich hatte bisher nicht das Gefühl, dass mir der Atheismus hier das Leben schwermacht. Aber den Aufwand, den man als Muslim aufbringen muss, um seine Religion zu leben, ist sicher höher als im Westen.
Matviyets:
In Halle gibt es keine koscheren Lebensmittelläden und keine Geschäfte, in denen man religiöse Güter wie Kippot oder Kerzen kaufen kann. Das erschwert natürlich das Leben von Menschen, die ihrem jüdischen Glauben stärker verbunden sind.
Klein: Für das Christentum gilt das nicht. Nach der Wiedervereinigung und durch die Übernahme des westdeutschen Systems ist die christliche Kirche hier trotz der wenigen Mitglieder gesellschaftlich stark verankert. Oder zumindest ist so meine Wahrnehmung: Das zeigt sich zum Beispiel an Feiertagen und in Stadtbildern – also Kirchen und ähnliche Bauten –, aber, wie ich finde, auch unter anderem darin, dass die CDU als Partei mit ausgeschrieben christlichen Werten viel gewählt wird. Und natürlich nicht zu vergessen sind die Sozialeinrichtungen, die oft in christlicher Trägerschaft sind.
Matviyets: Ich würde eher sagen, die Präsenz ist überproportional groß. Nein, das Christentum hat hier keinen starken Rücken mehr, es tut nur noch so. Im Gegenzug sind die stark anwachsenden islamischen Gemeinden nicht ähnlich institutionell verankert. In Sachsen-Anhalt gibt es zwischen den Gemeinden und dem Land keinen Staatsvertrag. Moscheen haben damit den gleichen Status wie jeder andere Verein. Im Rundfunkrat gibt man ihnen beispielsweise keinen Platz. Und beim Thema islamischer Religionsunterricht hinken wir ebenfalls sehr hinterher. Wir werden sicher bald an einen Punkt kommen, an dem die drei Prozent Katholiken in Sachsen-Anhalt von Muslimen überholt werden. Aber was den Atheismus betrifft: Für mich besteht eine gewisse Gefahr darin, dass es im Osten viele Menschen gibt, die eine distanzierte Beziehung zu Religion haben. Sie verstehen nicht, dass man hier Probleme haben kann, seine Religion auszuüben. Das ist vergleichbar mit weißen Menschen, die sagen, sie würden keine Hautfarben sehen. Das führt zu Desinteresse und gibt denen Nährboden, die Menschen aufgrund ihrer Religion diskriminieren.
Klein:
Im Osten herrscht bei vielen ein Bild von Religion als oppressiv, also als unterdrückend. Ich erlebe als queere Person, die sich im Synodalen Weg engagiert hat und sich für mehr Minderheitenrechte in der katholischen Kirche einsetzt, oft, dass man mir entgegnet: Ja, was bist du denn überhaupt in der Kirche! Nach dem Motto: Selbst schuld. Igor Matviyets hat völlig recht: Der Einfluss der Kirche wird massiv unterschätzt. Die meisten Sozialeinrichtungen, auch im Osten, sind in kirchlicher Trägerschaft und nicht neutral. Da hängen viele Fragen dran, wie zum Beispiel die, ob in den Krankenhäusern Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden können.
Semizoglu: Auch ich kann mich da nur anschließen. Die religiöse Infrastruktur für muslimisches Leben ist in Ostdeutschland nur rudimentär ausgeprägt. Das zieht sich durch alle Fragen – vom Beginn des Lebens bis zum Tod. Zudem wird der Alltag von muslimisch gelesenen Menschen durch antimuslimischen Rassismus erschwert, dessen Zustimmungswerte im Osten höher als im Westen sind. Aber ich bezweifle, dass das etwas mit dem Atheismus zu tun hat. Für mich hat es eher mit aktiv geschürten Ängsten durch Vorurteile und Ressentiments zu tun, die hier offenbar auf sehr fruchtbaren Boden stoßen.

Dennoch, Sie alle leben und engagieren sich im Osten. Deshalb im letzten Teil die Frage: Wo liegen hier die Chancen? Was ist hier möglich, was in Westdeutschland vielleicht nicht möglich wäre?
Semizoglu: Diese Frage ist wichtig, dennoch zögere ich ein wenig, sie zu beantworten. Natürlich ist es möglich, die durch Defizite entstandenen Leerstellen neu und anders zu füllen. Es gibt also Potenziale und Entwicklungsmöglichkeiten. Darauf gründet sich mein Engagement hier. Dabei lerne ich immer wieder großartige Menschen kennen. Die starke, humanistische Zivilgesellschaft, die es in Leipzig gibt, möchte ich nicht missen. Aber diese Beschreibung gerät eben an ihre Grenze, wenn sie zu einer romantischen, vielleicht sogar naiven Erzählung wird. Vieles beruht hier letztlich darauf, dass hier etwas fehlt. Im Osten fehlt die in den großen Einwanderungswellen entstandene Infrastruktur, wie sie im Westen durch die Gastarbeiter entstanden ist. Das ist einfach so.
Matviyets: Man kann hier wirklich viel gestalten. Heidelberg ist mir im Vergleich zu Halle immer als eine fertige Stadt erschienen, die mich, ehrlich gesagt, nicht brauchte. Dort sitzt man oft an Entscheidungspositionen, wenn man aus der »richtigen« Familie kommt. In Halle dagegen war es nie wichtig, wer meine Eltern sind, sondern es war wichtig, ob ich Lust hatte, mitzugestalten. Ich wurde oft mit Kusshand empfangen, gefragt und gehört. Wir leben in wichtigen Zeiten. Nächstes Jahr bei den Landtagswahlen entscheidet es sich, ob die AfD in Regierungsverantwortung kommt.

Wie meinen Sie das?
Matviyets: Da stellt sich die Frage, was machen westdeutsche Stiftungen, wenn die zivilgesellschaftlichen Vereine hier nicht länger vom Land finanziert werden? Springen die dann ein? Oder ducken sie sich weg? Gibt es einen Aufstand der Anständigen vor dem Brandenburger Tor, am Ende aber sehen wir die Leute doch erst in fünf Jahren vor den nächsten Wahlen hier wieder? Ich kann von mir nur sagen: Ich bin schon da. Ich habe hier schon viel Zeit investiert. Im Pass meines Kindes steht Halle an der Saale. Das prägt einen natürlich. Da will man die Gesellschaft noch mehr in die richtige Richtung treiben.
Klein: Ich bin natürlich geprägt von der Tatsache, im Osten in die Schule gegangen zu sein. Viele Lehrerinnen und Lehrer haben versucht, uns kritisches Denken beizubringen. Auch als Pegida entstand, war das ein großes Thema an unserem Gymnasium. Das war wirklich Glück für mich. Aber ich erlebe immer wieder, dass gerade an die ländlichen Räume im Osten nicht geglaubt wird. Gerade deshalb hat der katholische Religionsunterricht da ein enormes Potenzial, obwohl er so prekär ist. Aber wo, wenn nicht dort, kann man die wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen aus einer ethischen Perspektive besprechen. Außerdem wird sich ganz Deutschland, wenn die Kirchenaustrittszahlen so hoch bleiben, an die ostdeutsche Realität angleichen – und nicht umgedreht. Neue Modelle werden bald überall nötig sein.

Noch eine allerletzte Frage: An welche drei Begriffe denken Sie, wenn Sie das Wort Ostdeutschland hören?
Semizoglu: Leipzig. Das ist der Ort, an dem ich leben möchte. Nachholbedarf. Es gibt noch sehr viel zu tun, und vielleicht gelingt es uns, Dinge besser als im Westen zu machen. Irgendwie Heimat.
Matviyets: Unterschätzt. Hungrig. Gefährlich. Und natürlich Heimat. Ich muss in meinem Dönerladen nicht mehr sagen, was ich bestellen möchte. Aber ich weiß auch, wo ich Schutz bekomme.
Klein: Heimat. Der Osten bleibt der Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Menschen. Ich habe das Gefühl, das wird oft unterschätzt. Auch über Rechtsextreme reden wir in der Regel viel zu wenig als Menschen. Ich denke, wir würden davon profitieren, wenn wir diesen Aspekt wichtiger nähmen. Schmerz. Einmal aus Angst vor der Zukunft, aber auch, weil ich weiß, dass eine ostdeutsche Herkunft häufig noch stigmatisiert wird. Würde ich sächseln, würde ich sicherlich viel negativer wahrgenommen werden.

Die hier zu lesende Fassung ist eine gekürzte und paraphrasierte Version des Interviews aus dem Buch des Zentralrats der Juden in Deutschland (Hrsg.): »Glaubensspuren. Jüdische, muslimische und christliche Lebensrealitäten in Ostdeutschland«. Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig 2023, 160 S., 12,90 €

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