Politik

Solidarität üben

Konstituierende Sitzung am Dienstag im Berliner Reichstagsgebäude: 736 Abgeordnete gehören dem Parlament jetzt an. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

»Ist der neue Bundestag gut für die Juden oder nicht?«, unken Witzbolde und Unbedarfte. Allein, »die« Juden gibt es nicht. Nicht einmal in der kleinen hebräischen Gemeinde Deutschlands herrscht ein einheitliches politisches Urteil. Die Mehrheit hegt dennoch eine klare moralische Erwartung an die Abgeordneten des 20. Bundestages.

Wir wünschen uns eine Haltung, die der Agnostiker Walther Rathenau, der seine Mitjuden oftmals verhöhnte, so ausdrückte: »Ein Jude, der behauptet, er jage gern, lügt.« Bedeutet, Juden lassen sich von einem außergewöhnlichen Maß an Mitleid leiten. Nicht nur mit anderen Hebräern, sondern allen bedrängten Menschen gegenüber.

ideal Juden kommen ebenso wie andere nicht dem Ideal des Weisen Nathan nahe, und niemand meint, Juden seien per se »gute Menschen«. Dennoch ist das Engagement von Juden für Bedrängte bemerkenswert. Es entspringt dem Gebot der Nächstenliebe und der daraus folgenden Bestrebung der Weltverbesserung, des »Tikkun Olam«, sowie der schier unentwegten Verfolgungsgeschichte der jüdischen Schicksalsgemeinschaft.

Die Mehrheit der deutschen Juden hegt eine klare moralische Erwartung an die Abgeordneten des 20. Bundestages.

Die 736 deutschen Parlamentarier können sich daher darauf gefasst machen, dass viele Juden und Menschen mit entsprechender Haltung ihr Tun unter humanen Kriterien bewerten werden. Dabei ragen zwei Punkte heraus: die Politik gegenüber den Juden und, davon untrennbar, dem Staat Israel – nicht dessen konkreter Politik. Dabei geht es um die eigene Existenz, einschließlich Israels als einzig zuverlässiges Asyl der Hebräer in Not.

In der deutschen Demokratie ist die Politik das Ergebnis eines Zusammenspiels von Parteien, Regierung und Parlament. Es ist davon auszugehen, dass sich die Parteien der Ampel-Koalition darauf einigen werden, wie bislang »die Sicherheit Israels (als) Staatsräson« anzusehen. Was das im Konfliktfall bedeutet, wird bewusst offengehalten. Eine politische Leitlinie ist es allemal – zumal wenn sie von der Union ausging und auch von der SPD getragen wurde.

leitlinien Das Parlament kann Initiativen anstoßen und soll die Politik der Regierung kontrollieren. Der Kanzler bestimmt die Leitlinien der Politik – dabei ist er auf das Vertrauen des Bundestags angewiesen. Die Abgeordneten besitzen also das letzte Wort. Das haben sie bislang in Bezug auf die Juden und Israel zu nutzen verstanden.

Am 25. September 1952 stimmte der Bundestag für das Entschädigungsabkommen. Doch Kanzler Konrad Adenauer fehlte die Unterstützung der eigenen Koalition, denn die CSU votierte dagegen ebenso die rechte BHE und Teile der FDP. Das Gesetz konnte nur mit den Stimmen der oppositionellen SPD durchgesetzt werden.

Es genügt nicht, »prinzipiell« Antisemitismus zu verurteilen.

Die SPD stand seinerzeit felsenfest zu den Juden und zu Israel – man teilte demokratische Werte und wurde während der Nazizeit verfolgt. Diese Solidarität hielt bis zum Oktoberkrieg 1973. Israel war von Ägypten und Syrien angegriffen worden und rang um seine Existenz. Die USA wollten per Luftbrücke das bedrängte Zion mit Waffen versorgen. Doch Deutschland verweigerte dem amerikanischen Verbündeten hierfür die Überflugrechte.

verteidigung An der Spitze der Bundesregierung stand Willy Brandt, der gemeinsam mit Juden im Exil die Nazis bekämpft hatte und mit Israels Mapai-Partei in der Sozialistischen Internationale agierte. Warum er Israel im Stich ließ, sagte Brandt nie. Sein Nachfolger Helmut Schmidt mochte deutsche Panzer nach Saudi-Arabien exportieren und lieferte sich einen unguten öffentlichen Streit mit Israels Premier Begin. Auch der damalige Juso-Chef Gerhard Schröder war für den Panzerdeal. Als Kanzler (1998–2005) aber befürwortete Schröder die Lieferungen von U-Booten nach Haifa. Schröder bestimmte: »Israel bekommt, was es zu seiner Verteidigung braucht.«

Vor der Knesset gab Kanzlerin Angela Merkel 2008 den deutsch-israelischen Beziehungen eine neue Qualität, indem sie die Verpflichtung Deutschlands für Israels Sicherheit bekundete. Konsequent übte der Bundestag am 19. Mai 2019 mit breiter Mehrheit von Union, SPD und FDP sowie Teilen der Grünen Solidarität mit Israel, indem er sich gegen eine BDS-Politik aussprach. Denn der jüdische Staat darf nicht boykottiert und nicht erwürgt werden.

Solidarität mit Juden und Israel erfordert eine klare Einstellung und konkretes Handeln in der Gegenwart.

Und der neue Bundestag? Die Jusos haben 2020 die Jugendorganisation der Fatah als »Schwesterorganisation« bezeichnet. Schwesterorganisation? Die Fatah-Jugend tritt nicht für Demokratie und für Menschenrechte ein. Terror wird von ihr nicht verurteilt, Friedensinitiativen gegenüber Israel fehlen. Im neuen Parlament sind 49 Jusos als Abgeordnete vertreten. Sie und manche andere werden mit zunehmender Erfahrung – hoffentlich – einsehen, dass Beistand zu den Juden und Israel mehr sein muss als ein Lippenbekenntnis für jüdische Naziopfer.

Diesen Prozess hatte einst Gerhard Schröder durchlaufen. Jeder Abgeordnete ist allein seinem Gewissen verantwortlich. Es genügt nicht, »prinzipiell« Antisemitismus zu verurteilen. Solidarität mit Juden und Israel erfordert eine klare Einstellung und konkretes Handeln in der Gegenwart. Darauf bauen wir.

Der Autor ist Historiker, Politologe und Schriftsteller. Zuletzt erschienen von ihm die ersten Bände der Familientrilogie »Lauf, Ludwig, lauf!« und »Hannah und Ludwig«.

Ehrung

»Wir Nichtjuden sind in der Pflicht«

Am Mittwochabend wurde Karoline Preisler mit dem Paul-Spiegel-Preis des Zentralrats der Juden in Deutschland ausgezeichnet. Wir dokumentieren ihre Dankesrede

 06.11.2025 Aktualisiert

Medien

So erzeugt man einen gefährlichen Spin

Wie das Medienunternehmen »Correctiv« den Versuch unternimmt, die Arbeit des israelischen Psychologen Ahmad Mansour fragwürdig erscheinen zu lassen

von Susanne Schröter  06.11.2025

Meinung

Wenn deutsche Linke jüdische Selbstbestimmung ablehnen

In einer Resolution delegitimiert die Linksjugend Israel als koloniales, rassistisches Projekt. Dabei ist der Staat der Juden nicht zuletzt eine Konsequenz aus den Verbrechen der Deutschen im Nationalsozialismus

von Frederik Schindler  06.11.2025

Ostdeutschland

AfD-Regierung als »Schreckensszenario«

Zehn Monate vor den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt wächst in den jüdischen Gemeinden die Sorge vor einem Sieg der AfD

von Joshua Schultheis  06.11.2025

9. November

Erinnerung ohne Empathie ist leer

Wenn Deutschland am Sonntag der Pogromnacht gedenkt, darf Erinnerung nicht nur rückwärtsgewandt sein. Sie muss auch die Angst der Juden von heute im Blick haben

von Tobias Kühn  06.11.2025

Karlsruhe/Aarhus

Erneut Festnahme wegen mutmaßlicher Terrorpläne gegen jüdische Ziele

In Dänemark wurde ein Afghane festgenommen, der nach Erkenntnissen des deutschen Generalbundesanwalts Waffen und Sprengstoff für Anschläge auf Einrichtungen in Deutschland beschaffen sollte

 06.11.2025

Hanau

Hakenkreuze aus Menschenblut auf Autos geschmiert

Schauerliche Entdeckung im Hanauer Stadtteil Lamboy: Das Nazi-Symbol wurde auf Autos, Briefkästen und Hauswänden entdeckt. Die Polizei bittet die Bevölkerung um Hinweise

 06.11.2025

Berlin

Untersuchungsausschuss zu Fördergeld-Vergabe steht an

Wurde Förderung für Projekte gegen Antisemitismus nach politischen Wünschen der Berliner CDU vergeben? Grüne und Linke wollen die Vergabe durch Kultursenatoren nun genau durchleuchten

 06.11.2025

Laudatio

»Wie hält man so etwas aus?«

Bundestagspräsidentin Julia Klöckner hielt die Laudatio auf Karoline Preisler anlässlich der Verleihung des Paul-Spiegel-Preises in Berlin. Eine Dokumentation

von Julia Klöckner  05.11.2025