Geschichte

Rechts und links: Wie die AfD ein falsches Goebbels-Zitat verbreitet

Alice Weidel in der Sendung mit Caren Miosga Foto: IMAGO/HMB-Media

Über Jahrzehnte schon taucht in der rechtsextremen Szene immer wieder die These auf, die Nationalsozialisten gehörten dem linken politischen Spektrum an. Erst im Januar 2025 etwa stellt AfD-Chefin Alice Weidel die unwahre Behauptung auf, Hitler selbst sei ein Kommunist gewesen.

Daneben wird seit Jahren eine vermeintliche Aussage des späteren NS-Propagandaministers Joseph Goebbels aus der Zeit vor der Machtergreifung verbreitet: »Der Idee der NSDAP entsprechend sind wir die deutsche Linke. Nichts ist uns verhaßter als der rechtsstehende nationale Bürgerblock«, soll er angeblich am 6. Dezember 1931 in der Tageszeitung »Der Angriff« geschrieben haben.

Bewertung

Nach Recherchen des Historikers Volker Weiß gibt es an diesem Tag keine Ausgabe des »Angriff«. Der Satz stammt dem Forscher zufolge in Wahrheit von einem Nationalsozialisten, der bei der NS-Führung bald in Ungnade fiel.

Fakten

Nach Angaben des Hamburger Historikers Volker Weiß, der sich intensiv mit Geschichtsumdeutungen in der radikalen Rechten auseinandersetzt, geistert das angebliche Goebbels-Zitat seit den Achtzigerjahren durch das rechte Schrifttum.

»Er hat es gar nicht gesagt«, erklärt der Wissenschaftler im Februar 2025 in einem Interview (kostenpflichtig) mit der Wochenzeitung »Die Zeit«. »Die Aussage, die angeblich aus dem »Angriff« vom 6. Dezember 1931 stammt, ist dort nicht zu finden.«

Wie Goebbels zur erfundenen Urheberschaft kam

Als Ursprung der Goebbels-Zuschreibung wird gelegentlich das Buch »Dokumente deutschen Daseins 1445-1945 - 500 Jahre deutsche Nationalgeschichte« angegeben, herausgegeben 1983 unter anderem von Wolfgang Venohr und Sebastian Haffner. Dort wird auf Seite 279 der Satz tatsächlich Goebbels vor seiner Zeit als Propagandaminister zugeschrieben. Es heißt statt »Bürgerblock« aber »Besitzbürgerblock«.

»Der Angriff« war 1931 die von Goebbels herausgegebene Parteizeitung in der Region Berlin. Doch nach Weiß‹ quellenkritischer Prüfung gab es am 6. Dezember 1931, einem Sonntag, gar keine Ausgabe. Ihm zufolge sind die Sätze in keinem der Exemplare in den Wochen davor oder danach zu finden, wie er der österreichischen »Die Presse« mitteilt (kostenpflichtig).

Zitat in Wahrheit aus »Niedersächsischer Tageszeitung«

Der Historiker wurde eigenen Angaben zufolge dafür aber in der täglich erscheinenden nationalsozialistischen »Niedersächsischen Tageszeitung« vom 6. September 1931 fündig. Hinter dem dortigen Autorenkürzel »H.« vermutet er den damaligen Chefredakteur Joachim Haupt, einen Nazi der ersten Stunde.

Der Nationalsozialist Haupt gehörte dem nationalrevolutionären Röhm-Flügel an, der 1934 von der Führung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) brutal kaltgestellt wurde.

Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) nahm in der Staatsbibliothek zu Berlin Einsicht in ein archiviertes Exemplar der »Niedersächsischen Tageszeitung« vom 6. September 1931 und wurde fündig: Auf Seite 2 stehen die fälschlich Goebbels zugeschriebenen Sätze dort in einem Artikel mit dem Titel »Sind wir eine nationale Rechtspartei«. Dieser Text ist am Ende mit dem Autorenkürzel »H.« versehen.

Der »Niedersächsischen Tageszeitung« wird das Zitat auch in einem zeitgenössischen Aufsatz (S. 5) des konservativen Politikers Ewald von Kleist-Schmenzin zugeordnet, in dem dieser in den frühen 1930er Jahren vor einer Machtübernahme durch die Nazis warnt. Darin wird allerdings das Datum 6. Dezember 1931 genannt.

Wie sich die Nazis den Begriff Sozialismus aneignen

»Der Sozialismus-Begriff war damals längst vaterländisch vereinnahmt worden«, erläutert Weiß im »Zeit«-Interview. Schon vor dem Nationalsozialismus seien Begriffe der Arbeiterbewegung zu nationalistischen Zwecken umdefiniert worden. Der Sozialismus der NSDAP »war der Sozialismus der deutschen Volksgemeinschaft und stand der klassischen bürgerlichen Rechten mit ihren elitären Besitzstandsinteressen entgegen«, so der Historiker.

Die Grundlage der NS-Weltanschauung ist die Ungleichwertigkeit der Menschen, auf welcher der sogenannte NS-Rassenwahn fußt. Das ist das genaue Gegenteil des linken, sozialistischen Gleichheitsideals.

Hitlers Sozialismus-Begriff etwa entspreche »ganz seiner verächtlichen Vorstellung vom dummen, stets mit billigen Wohltaten verführbaren Volkshaufen«, schreibt der Soziologe Christoph H. Werth in seinem Buch »Sozialismus und Nation«.

Der Versuch, die NS-Führung aufgrund früher antikapitalistischer Affekte in der NSDAP und ihres sozialistischen Namenselementes als »links« zu bezeichnen, ist für den Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Andreas Wirsching, ein beliebtes Täuschungsmanöver. Diese These tauche in der rechtsextremen Szene immer wieder auf. »Faktisch handelt es sich um ein reines und gemessen an der historischen Wahrheit infames Propagandamanöver. Mit ihm sollen rechte Vergangenheiten und die wahren Ziele rechtsextremer Politik camoufliert werden«, erklärt der Historiker.

AfD verbreitet falsches Goebbels-Zitat

Den falsch Goebbels zugeordneten Satz führt etwa die AfD am 23. März 2023 im Plenum des Landtags in Sachsen-Anhalt an. In dem Bundesland ist die Partei inzwischen als gesichert rechtsextremistisch eingestuft. Anlass ist seinerzeit der 90. Jahrestag des NS-Ermächtigungsgesetzes, mit dem 1933 die Grundlage für Hitlers Diktatur gelegt wurde.

»Möchten Sie ein bisschen Geschichtsunterricht haben?«, fragt der AfD-Fraktionsvorsitzende Oliver Kirchner (im Video unter TOP 3 am 23.3.2023 ab 3:54 Min.im Protokoll S. 13) einen Abgeordneten der Grünen, bevor er das vermeintliche Goebbels-Zitat vorträgt. Nach Angaben der »Mitteldeutschen Zeitung« (kostenpflichtig) verlassen Politiker von SPD, Grünen, Linken und CDU daraufhin das Plenum.

Im Mai 2025 wiederum verbreiten mehrere Social-Media-Accounts mit der Bezeichnung »AfD Bitterfeld-Wolfen« den falschen Satz (etwa hier und hier). dpa

Links

»Zeit«-Interview mit Historiker Weiß, kostenpflichtig (archiviert)

»Die Presse« über Weiß-Forschung nach angeblichem Goebbels-Zitat, kostenpflichtig (archiviert)

Aufsatz über Goebbels und »Der Angriff« (archiviert)

»Niedersächsische Tageszeitung« (archiviert)

Staatsbibliothek zu Berlin (archiviert)

Forschungsprojekt zu NS-Beamten über Haupt (archiviert)

Deutsches Historisches Museum über »Röhm-Putsch« (archiviert)

Deutsches Historisches Museum über Goebbels (archiviert)

Aufsatz von Ewald von Kleist-Schmenzin mit Zitat (archiviert)

Soziologe Werth über Hitler und Sozialismus, besonders S. 238f.

Historiker Wirsching über NSDAP und linke Politik (archiviert)

Plenarprotokoll des sachsen-anhaltinischen Landtags vom 23.3.2023, Kirchner zitiert Goebbels auf S. 13 (archiviert)

Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt über rechtsextreme Parteien (archiviert)

»Mitteldeutsche Zeitung« über Plenarsitzung in Magdeburg am 23.3.2023, kostenpflichtig (archiviert)

dpa-Faktencheck über Weidels unwahre These zu Hitler

Kalender von 1931 (archiviert)

Facebook-Post mit falschem Goebbels-Zitat (archiviert)

Telegram-Account »AfD Bitterfeld-Wolfen« mit falschem Goebbels-Zitat (archiviert)

Instagram-Account »afd_bitterfeld_wolfen« mit falschem Goebbels-Zitat (archiviert)

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