Am Dienstag vergangener Woche titelte die Deutsche Presse-Agentur: »Deutschland bremst bei EU-Sanktionen gegen Israel«. Bei der letzten Sitzung der EU-Botschafter der 27 Mitgliedsstaaten in Brüssel hatte der Vorstoß der EU-Kommission, Israel zu sanktionieren, nicht die erforderliche Mehrheit bekommen. Zur Abstimmung stand der Ausschluss israelischer Unternehmen vom Förderprogramm »EIC Accelerator«, das Teil des EU-Israel-Assoziierungsabkommens ist.
Nur sieben Länder schlossen sich dem Vorschlag an. Doch er wird auf Arbeitsebene weiter beraten. 15 Mitgliedsstaaten sind für die Verabschiedung notwendig. Um eine »qualifizierte Mehrheit« zu erreichen, müssen die Ja-Stimmen zudem mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung oder mehr repräsentieren. Deshalb kommt dem Abstimmungsverhalten der großen Staaten eine besondere Bedeutung zu.
Wohlwollende Prüfung
Drei dieser Länder – Frankreich, Spanien und die Niederlande – haben sich bereits hinter den Vorschlag der Kommission gestellt. Auch kleinere EU-Staaten wie Irland, Luxemburg und Malta signalisierten eine wohlwollende Prüfung. Dass am Ende 15 Regierungen zustimmen, gilt als sehr wahrscheinlich, doch das Quorum für den Bevölkerungsanteil könnte dennoch verpasst werden.
Denn die Bundesregierung und auch Giorgia Meloni in Italien zögern noch. Berlin und Rom könnten das Zünglein an der Waage sein, denn gemeinsam mit den Staaten, die Informationen dieser Zeitung zufolge den Vorschlag der Kommission ablehnen – Bulgarien, Griechenland, Österreich, Tschechien und Ungarn –, und jenen, die noch unentschlossen sind, hätten Deutschland und Italien die notwendige Sperrminorität.
Dass man in Berlin Strafmaßnahmen gegen Israel nicht grundsätzlich ablehnt, ist ein offenes Geheimnis. Bei der Sitzung der EU-Botschafter forderte der deutsche Vertreter erneut Sanktionen gegen gewalttätige Siedler im Westjordanland. Allerdings ist die Hürde hier höher als beim Kommissionsvorschlag: Es bräuchte einen einstimmigen Beschluss der 27 Staaten.
Rufe nach einer härteren Gangart
Doch auch im Regierungslager in Berlin werden die Rufe nach einer härteren Gangart gegen Israel – Staatsräson hin oder her – lauter. Sie kommen mittlerweile nicht nur aus der SPD, sondern auch von prominenten Unionspolitikern. So sagte der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen der »Zeit«: »Wenn sich Israels Politik nicht sehr schnell ändern sollte, wäre auch Deutschland gezwungen, zusammen mit unseren Partnern konkrete Maßnahmen zu ergreifen.«
Es gelte nun, »Vereinbarungen auszusetzen, die ausdrücklich das Bekenntnis zu humanitären und völkerrechtlichen Verpflichtungen beinhalten«. Damit meinte Röttgen, stellvertretender Fraktionsvorsitzender von CDU und CSU im Bundestag, das EU-Israel-Assoziierungsabkommen.
Aus den eigenen Reihen erntete Röttgen scharfen Widerspruch, unter anderem von Roderich Kiesewetter, dem Obmann der Fraktion im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages. Der zeigte sich entsetzt über die Forderungen. »Unverbrüchlich« müsse Deutschland gerade jetzt an der Seite Israels stehen. Man dürfe nicht auf »pro-palästinensische Narrative« hereinfallen und auch keine »Täter-Opfer-Umkehr« betreiben, betonte Kiesewetter. Die Kritik am israelischen Vorgehen gegen die Hamas in Gaza, auch aus der Union, nannte er »unberechtigt«.
»Erste leichte Fortschritte«
In dieser aufgeheizten politischen Gemengelage fällt es der Bundesregierung zusehends schwer, eine klare Haltung zu formulieren. »Erste leichte Fortschritte« in Bezug auf die Lage in Gaza konstatierte Regierungssprecher Stefan Kornelius am Wochenende nach einer Sitzung des informellen Sicherheitskabinetts. Israel stehe aber »weiter in der Pflicht, eine umfassende Versorgung auch mit Unterstützung der Vereinten Nationen und anderer humanitärer Organisationen sicherzustellen«.
Außenminister Johann Wadephul (CDU) hatte dem geheim tagenden Kabinettsausschuss zuvor Bericht erstattet über seinen Blitzbesuch in Israel und dem Westjordanland am Vortag (vgl. Seite 3). Dort war Wadephul für einen deutschen Minister ungewohnt deutlich und direkt aufgetreten. Kanzler Merz persönlich hatte ihn als seinen Emissär geschickt und ihm aufgetragen, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Außenminister Gideon Sa’ar Berlins wachsende Frustration über die nach Ansicht der Bundesregierung völlig unbefriedigende Lage der Menschen in Gaza deutlich zu machen.
Die Bundesregierung sperrt sich gegen EU-Sanktionen. Doch wie lange noch?
Ähnliche Kritik hatte Deutschland bereits in besagter Sitzung der Ständigen Vertreter in Brüssel geäußert. In diesem Punkt sind sich die EU-Staaten im Wesentlichen einig: Israel tut nicht genug und hat die am 10. Juli mit der EU geschlossene Vereinbarung zur Aufstockung der humanitären Hilfe für die Palästinenser bislang nur unzureichend umgesetzt. Es muss mehr passieren, glaubt auch die Bundesregierung. In Gaza sei Israel nun einmal die einzige Partei, die die Versorgung der Zivilbevölkerung gewährleisten könne. In Brüssel ist man sich also nicht uneins darüber, ob es mehr Druck auf Jerusalem braucht, sondern eher, wie dieser Druck aussehen soll.
Durch sogenannte »Air Drops«, mit Flugzeugen abgeworfene Güter, beteiligt sich Deutschland neuerdings an den Hilfslieferungen nach Gaza. Und es hat bereits gemerkt, wie schwer es ist, hehre Worte in Taten umzusetzen. Man sei sich bewusst, dass das nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein könne, hieß es am Wochenende in Berlin. Zudem würde ein Großteil der Hilfsgüter von der Hamas und marodierenden kriminellen Banden im Gazastreifen gestohlen.
Das Heft des Handelns in der Hand
Noch hat Jerusalem also das Heft des Handelns in der Hand. Und dort scheint man sich auch des Ernsts der Lage bewusst zu sein. Wohl auch deshalb nahm der israelische Außenminister im Vorfeld des Wadephul-Besuchs etwas Dampf aus dem Kessel.
In einem Interview mit der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« lobte Gideon Sa’ar die Bundesregierung ausdrücklich als »rational handelnden Partner« und betonte, Israel sei von der Bundesrepublik nicht enttäuscht. »Die deutsche Regierung ist eine freundliche Regierung. Ich vertraue ihren guten Absichten.
Aber es gibt Druck von anderen EU-Mitgliedsstaaten und vielleicht auch von einigen Koalitionspartnern«, sagte Sa’ar ungewöhnlich konziliant der FAZ. Und das, obwohl in inhaltlichen Fragen – insbesondere im Hinblick auf die diplomatische Anerkennung eines Palästinenserstaates im Westjordanland und in Gaza – die Kluft zwischen den Positionen Berlins und Jerusalems kaum größer sein könnte.
Abstimmung spätestens im September
Die nächsten Wochen werden zeigen, ob die relative Harmonie bestehen bleibt. Spätestens im September werden in Brüssel die EU-Botschafter über den Sanktionsvorschlag abstimmen, und spätestens dann wird auch die Bundesregierung Farbe bekennen müssen. Eine qualifizierte Mehrheit ist theoretisch auch ohne Deutschland denkbar. Doch würde die Bundesregierung überstimmt, stünde sie am Ende neben Israel als großer Verlierer da: Deutschland wäre in Brüssel isoliert, ohne den jüdischen Staat vor Sanktionen bewahrt zu haben.
Sollte die EU erstmals in ihrer Geschichte den Schritt gehen und die Strafmaßnahmen gegen Israel beschließen, könnte das zudem einem Dammbruch gleichkommen. Weitere Sanktionsmaßnahmen könnten folgen. Viele in Brüssel und den europäischen Hauptstädten erachten es als nicht mehr vertretbar, dass Europa es bislang nur bei Appellen an die Adresse Israels belassen hat.
Im Mai hatte Bundeskanzler Merz beim »WDR Europaforum« versprochen: »Wir müssen jetzt zeigen, dass wir dieses Europa zusammenhalten.« Es erscheint kaum vorstellbar, dass sich das größte EU-Land dem Willen einer großen Mehrheit der anderen Mitgliedsstaaten widersetzen wird, sollte eine solche zustande kommen. Am Ende könnte auch Merz den Weg des geringsten Widerstands wählen.