Im Prozess gegen einen früheren Wachmann des KZ Sachsenhausen hat die Nebenklage kein konkretes Strafmaß für den angeklagten 101-jährigen Josef S. gefordert.
Ein Strafmaß unterhalb der Grenze von fünf Jahren wäre aber den von ihm vertretenen zehn Überlebenden und Angehörigen nur mit großer Mühe zu vermitteln, sagte Anwalt Thomas Walther am Dienstag in der Verhandlung in Brandenburg an der Havel. Die Aufgabe eines KZ-Wachmanns sei gewesen, das Morden in einem abgegrenzten Bereich möglich zu machen. Die vorliegenden Dokumente belegten die Tätigkeit von Josef S. im KZ Sachsenhausen eindeutig.
ermittlungen Die Anklage wirft ihm Beihilfe zum grausamen und heimtückischen Mord in mehr als 3500 Fällen vor. Der Angeklagte war den Ermittlungen zufolge in der Zeit zwischen dem 23. Oktober 1941 und dem 18. Februar 1945 als SS-Wachmann in Sachsenhausen tätig. Der in Litauen geborene Baltendeutsche bestreitet dies. Zahlreiche Unterlagen sprechen jedoch dafür. Nach dem Krieg lebte er 77 Jahre unbehelligt erst in der DDR und dann in der Bundesrepublik (AZ: 11 Ks 4/21).
Walther sprach von unermesslichem Leid, das der heute 101-Jährige mit vielen anderen KZ-Wachleuten über Jahre den Häftlingen im KZ-Sachsenhausen zugefügt habe. Josef S.‹ Beitrag am Leid der in dem Prozess vertretenen Nebenkläger sei mehrtausendfach größer, wenn die Gesamtheit der Mordopfer und deren Familien bis in die zweite und dritte Generation in den Blick genommen werde. Eine wirklich angemessene Strafe gebe es dafür nicht. Die Gräueltaten seien so furchtbar, dass jede Teilnahme, selbst wenn sie nur von untergeordneter Bedeutung war, nicht hoch genug bestraft werden könne.
»Insofern erscheint bereits die gesetzliche Strafandrohung, die für Beihilfe zum Mord eine Freiheitsstrafe von drei bis 15 Jahren vorsieht, nicht angemessen«, sagte Walther. Das Gesetz lasse aber nichts anderes zu. Er appellierte zugleich an Josef S., doch noch ein Geständnis abzulegen.
ns-vergangenheit Der frühere Chefermittler der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen warf der deutschen Justiz zudem vor, pflichtvergessen Zeit »verplempert« zu haben. Es habe bereits seit den 70er-Jahren Erkenntnisse der Stasi über die NS-Vergangenheit des 101-jährigen Angeklagten gegeben.
Auch der Nebenklage-Anwalt Hans-Jürgen Förster, dessen Mandant Shimon Rothschild mit 16 Jahren in Sachsenhausen medizinischen Experimenten der SS ausgesetzt war, forderte mindestens fünf Jahre Haft. Dabei gehe es ausschließlich um die individuelle Schuld von Josef S., nicht um eine Kompensation von Justizversagen in den vergangenen Jahrzehnten. Die Staatsanwaltschaft hatte zuvor fünf Jahre Haft gefordert. Am Dienstag soll es Plädoyers von weiteren Nebenklägern geben. Ein Urteil wird für den 2. Juni erwartet.
Im KZ Sachsenhausen waren zwischen 1936 und 1945 mehr als 200.000 Menschen inhaftiert. Zehntausende von ihnen wurden ermordet oder kamen auf andere Weise ums Leben.
Der Prozess hatte Anfang Oktober vergangenen Jahres vor dem Landgericht Neuruppin begonnen. Er findet nahe dem Wohnort von Josef S. in Brandenburg an der Havel statt, weil dieser laut Gutachter nur wenige Stunden am Tag verhandlungsfähig ist. epd