Wann eigentlich wird Russland die Freilassung der letzten lebenden israelischen Geiseln als Erfolg seiner Außenpolitik für sich reklamieren? Die Frage erscheint auf den ersten Blick geradezu absurd. Denn am 13. Oktober, dem Tag, an dem die 20 Geiseln nach mehr als zwei Jahren Gefangenschaft endlich aus der Gewalt der Hamas freikamen, war es doch US-Präsident Donald Trump, der dafür gefeiert wurde, Israel und die Terrororganisation zu einem Deal gebracht zu haben.
Dennoch wird unter den Experten für die Beziehungen zwischen Israel und Russland die Frage nicht ganz zufällig sarkastisch und überspitzt diskutiert – schließlich ließ der Kreml bereits bei früheren Geiselfreilassungen keine Gelegenheit aus, ein irreführendes Narrativ zu verbreiten: Dank der Vermittlung Moskaus und des »besonderen Verhältnisses« zwischen Russland und der Hamas seien insbesondere Israelis freigekommen, die auch im Besitz einer russischen Staatsangehörigkeit waren.
Auch diesmal bleibt sich Moskau treu
Auch diesmal bleibt sich Moskau treu. Der am 13. Oktober freigelassene Maxim Herkin, der sich am 7. Oktober auf dem Nova-Festival befand und von dort von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt wurde, wird in russischen Publikationen als »Landsmann« dargestellt – als jemand, der wegen seiner »russischen Herkunft« besser behandelt worden sei, sein Überleben vor allem Präsident Wladimir Putin verdanke und nun die russische Staatsbürgerschaft beantragen wolle. Die Rolle Trumps oder der IDF wurde dagegen nicht erwähnt.
Für Russland besitzt Herkins Geschichte besondere propagandistische Attraktivität, denn die Geisel stammt aus dem ukrainischen Donezk – heute von Russland besetzt und annektiert: Sie soll Moskaus Anspruch auf den »ur-russischen« Donbass zusätzlich untermauern. Die Tatsache, dass er bereits 2005 als 17-Jähriger nach Israel ausgewandert war und dort Offizier in der Armee werden sollte, wurde schlichtweg ausgeblendet.
Russland-Kritiker sehen sich in ihrer Einschätzung bestätigt: Der Kreml instrumentalisiert das Leid der in den Gazastreifen verschleppten Menschen für politische Zwecke – zynisch und konsequent.
Der Fall Herkin steht exemplarisch für die Nahost-Strategie, die Moskau seit dem 7. Oktober 2023 verfolgt. Zwar lässt sich bisher nicht belegen, dass Russland vorab von dem Angriff der Hamas wusste, wie der israelische Russland-Experte und frühere Botschafter in Kyjiw und Moskau, Zvi Magen, vermutete.
Tragödie und anschließende Eskalation
Dass die Tragödie und anschließende Eskalation dem Kreml aber gelegen kamen, ist kaum zu übersehen. Der Gaza-Krieg und andere regionale Konflikte dienten Moskau als willkommene Ablenkung von der eigenen Aggression gegen die Ukraine. Sie trugen zugleich zu einer für Russland vorteilhaften Polarisierung in Europa und den USA bei und verschärften die Spannungen im westlichen Bündnis.
Der Konflikt in Nahost diente Putin als willkommene Ablenkung vom Ukraine-Krieg.
Die russische Propaganda verbreitete anti-israelische Narrative, und zwar nicht selten mit antisemitischem Unterton. Die »brutale« israelische Kriegsführung wurde dabei den angeblich »humanen« russischen Methoden gegenübergestellt.
Die Rhetorik über den Völkermord in Gaza und Vergleiche mit NS-Gräueltaten gehörten zum festen Bestandteil des Propagandarepertoires. In der arabischen Welt inszenierte sich der Kreml stets als Anwalt palästinensischer Interessen. Moskau hat in den vergangenen Jahren seine Beziehungen zur Hamas und zur Palästinensischen Autonomiebehörde unter Mahmud Abbas ausgebaut und arbeitete – zumindest bis zum Zwölftagekrieg im Juni dieses Jahres – eng mit dem Iran zusammen.
Unmittelbarer Einfluss in der Region
Gleichzeitig ist Russlands unmittelbarer Einfluss in der Region geschwunden. In Syrien brach das Regime von Moskaus langjährigem Partner Baschar al-Assad zusammen. Der Iran ist geschwächt und enttäuscht über die ausgebliebene Unterstützung durch Moskau in dem Konflikt mit Israel. Und während Washington die geopolitische Neuordnung des Nahen Ostens vorantreibt, bleibt Russland – wie selbst Außenminister Sergej Lawrow einräumen musste – außen vor. Der für Oktober geplante arabisch-russische Gipfel wurde abgesagt: Die meisten arabischen Staatschefs hatten kein Interesse an einer Reise nach Moskau signalisiert.
Vor diesem Hintergrund lobte Putin zwar öffentlich Trumps Nahost-Friedensplan, doch insgeheim dürfte er auf dessen Scheitern hoffen. Denn eine Stabilisierung der Region – verbunden mit einer erneuerten US-Führungsrolle – widerspricht den Interessen des Kremls fundamental: Ein dauerhafter Frieden im Nahen Osten könnte nicht nur politische Spannungen in Europa, das von Moskau zunehmend als wichtigster Gegner betrachtet wird, entschärfen, sondern auch den inneren Zusammenhalt des sogenannten kollektiven Westens stärken. Und nicht zuletzt könnte ein außenpolitisch gestärkter Trump seinen Fokus wieder stärker auf die Ukraine richten.
Genau dieses Szenario beginnt sich nun abzuzeichnen: Da Russland den USA nicht entgegenkommen will, weiterhin auf eine ukrainische Kapitulation setzt und den von Trump angestrebten Waffenstillstand entlang der aktuellen Frontlinien ablehnt, scheint der US-Präsident die Geduld mit seinem russischen Kollegen verloren zu haben. Der umstrittene amerikanisch-russische Gipfel in Budapest wurde von den USA abgesagt, und Trump erhöht den Druck auf Putin, indem er drastische Sanktionen gegen die wichtigsten russischen Ölkonzerne »Rosneft« und »Lukoil« verhängt.
Diese werden die russische Wirtschaft zwar empfindlich treffen, doch ein Einlenken Putins ist nicht zu erwarten. Der Kreml-Herrscher betrachtet seinen Krieg gegen die Ukraine als »Russlands Existenzkampf«, in dem jeder Kompromiss einer Niederlage gleichkäme. Ein Ende dieses Krieges ist nach wie vor nicht in Sicht.