Rosch Haschana markiert den Beginn der Teschuwa – einer Zeit der Selbstprüfung, die in der Versöhnung an Jom Kippur mit uns selbst und anderen gipfelt. Es gehört zu den Besonderheiten des jüdischen Neujahrs, dass eine Versöhnung mit Gott erst dann möglich ist, wenn es davor eine Versöhnung mit unseren Mitmenschen gab.
In Israel begehen manche Familien das zweite Neujahrsfest, an dem ein Platz leer bleibt, weil der Bruder, die Tochter oder der Ehemann noch immer als Geisel der Hamas im Gazastreifen um sein Leben fürchten muss. Innenpolitisch steht das Land vor schwierigen Fragen. Während ich diese Zeilen schreibe, gehen immer mehr Israelis auf die Straßen, um ihrem Unmut gegen die Politik der Regierung Luft zu machen. Und wieder zeigt sich: Israel ist eine Demokratie. In keinem seiner Nachbarstaaten wäre diese Form der öffentlichen Kritik möglich. Im Gegenteil.
Aber diese komplexe Situation stellt auch für uns Juden in der Diaspora eine Herausforderung dar. Denn nicht jeder von uns ist mit jeder Entscheidung der israelischen Regierung einverstanden.
Israels innenpolitische Konflikte sind keine bloße Binnenangelegenheit.
Den vor Kurzem angekündigten erweiterten Siedlungsbau sehe ich persönlich kritisch. Kritisch sehe ich auch, dass einzelne, nationalistische Minister die Deutungshoheit über Israels Identität und Zukunft für sich beanspruchen. Diese stehen für einen Kurs, der – so glaube ich – nicht zum Wohle des Landes beiträgt. Nach meinen Gesprächen mit vielen Gemeindemitgliedern in ganz Deutschland vermute ich, dass ich mit dieser Meinung in der jüdischen Gemeinschaft nicht allein bin. Und obwohl dies meine Meinung ist, weiß ich auch, dass es sich aus 3000 Kilometer Entfernung sehr leicht urteilen lässt.
Israels innenpolitische Konflikte sind keine bloße Binnenangelegenheit. Sie berühren das Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft weltweit. Deshalb halte ich zu Israel, denn der Staat ist mehr als eine Regierung. Auch werde ich nicht müde zu erklären, dass Kritik an der Regierung Israels legitim sein mag, aber das Existenzrecht Israels und sein Recht auf Selbstverteidigung niemals zur Disposition stehen dürfen. Israel sieht sich gezwungen, seine Bevölkerung täglich vor Bedrohungen durch Terrororganisationen wie die Hamas und die vom Iran unterstützte Hisbollah zu schützen. Diese Bedrohungen sind real, anhaltend und existenziell.
Unser Leben, fern vom Krieg, hier in Deutschland darf uns diese materielle Realität vor Ort nicht vergessen lassen. Erst kürzlich wurden in Frankfurt und Berlin Menschen tätlich angegriffen, weil sie sich für die Freilassung der Geiseln öffentlich eingesetzt haben. Es ist ein Armutszeugnis, wenn es in Deutschland keinen gesamtgesellschaftlichen Konsens gibt, sich für die Freilassung der Geiseln – darunter auch zahlreiche deutsche Staatsbürger – starkzumachen.
Die schwindende Solidarität in unserer Gesellschaft dürfen wir nicht hinnehmen. Gleichzeitig blicken wir mit Sorge auf die politische Ebene: Die Staatsräson der Bundesregierung in Bezug auf Israel zeigt erste Risse. Die Ankündigung der teilweisen Einstellung von Waffenlieferungen an Israel war und ist ein Fehler.
Die Akademie soll ein Ort des Lernens, des Austauschs und der Begegnung werden.
Gewiss bleibt Deutschland im internationalen Vergleich einer der engsten Verbündeten Israels. Doch gerade deshalb ist es umso wichtiger, dass die Solidarität unverbrüchlich ist und von allen demokratischen Kräften gemeinsam getragen wird. Die Defizite der vergangenen Monate müssen korrigiert werden. Als Zentralrat der Juden in Deutschland sehen wir es als unsere Aufgabe, dieser Entwicklung entschieden entgegenzutreten: im Kampf gegen die Gleichgültigkeit und den steigenden Antisemitismus, aber auch durch die Stärkung unserer eigenen Gemeinschaft von innen heraus.
Ein zentrales Projekt auf diesem Weg ist die Jüdische Akademie in Frankfurt am Main, die wir im kommenden Jahr eröffnen werden. Sie wird ein Ort, an dem jüdische Perspektiven sichtbar und hörbar sind – für unsere Gemeinden ebenso wie für die Gesellschaft insgesamt. Die Akademie soll ein Ort des Lernens, des Austauschs und der Begegnung werden, getragen vom Zentralrat der Juden in Deutschland. Sie ist ein Meilenstein für die gesamte jüdische Gemeinschaft in unserem Land, denn es handelt sich hier nicht um einen Ort, der nur Akademikern vorbehalten ist. Im Gegenteil: Die Akademie entwickelt Bildungs- und Veranstaltungsformate, die jüdische Perspektiven auf aktuelle gesellschaftliche, politische und kulturelle Fragen sichtbar machen – etwa in Form von öffentlichen Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Workshops. Dabei reicht das Themenspektrum von Antisemitismusforschung über Erinnerungskultur, Demokratiediskurse und interreligiösem Dialog bis hin zu Fragen der jüdischen Alltagskultur.
Die Akademie ist damit zugleich Denkraum und Begegnungsort – für jüdische Gemeinden, für Angehörige anderer Religionsgemeinschaften und für die breite, interessierte Öffentlichkeit. Es gibt also für das Jahr 5786 noch viel zu tun für uns. Wir alle hoffen auf Frieden im Nahen Osten und beten für eine baldige Freilassung der Geiseln. Als Gemeinschaft müssen wir weiterhin Resilienz zeigen, auch wenn es uns nicht immer leichtfällt. Rosch Haschana erinnert uns daran innezuhalten, uns selbst zu prüfen und trotz aller Herausforderungen den Blick nach vorn zu richten. Es liegt an uns, Solidarität und Zusammenhalt zu bewahren und daraus neue Stärke zu gewinnen. Schana towa u-metuka!
Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.