Interview

»Man darf diese Sache nicht aussitzen«

Württembergs evangelischer Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl Foto: IMAGO/epd

Herr Landesbischof, am Sonntag kam es nach dem evangelischen Gottesdienst in Langenau bei Ulm vor der Kirche zu Handgreiflichkeiten zwischen einem pro-palästinensischen Demonstranten und Kirchgängern. Eskaliert dort nun der Konflikt?
Ich hoffe es nicht und bedaure sehr, dass es so weit gekommen ist.

Sie schrieben vor einigen Monaten in einem Gastbeitrag für unsere Zeitung, in Langenau seien »rote Linien schon längst und wiederholt überschritten« worden. Was meinten Sie damit?
Die erste rote Linie wurde bereits am 15. Oktober 2023 überschritten, als ein Störer im Gottesdienst mit großer Aggressivität gegen Pfarrer Ralf Sedlak vorging und anfing, ihn zu diffamieren. Zu keinem Zeitpunkt hat der Mann die sachliche Auseinandersetzung gesucht. Vielmehr versucht er seitdem, den Pfarrer und dessen Familie unter Druck zu setzen und die ganze Kirchengemeinde in Langenau richtiggehend mürbe zu machen. Auch bei dem Grundrecht der Meinungsfreiheit, das wir Gott sei Dank haben, wurde schon mehrfach eine rote Linie überschritten. Wenn sich unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit der Hass auf Jüdinnen und Juden und auf Israel Bahn bricht, dann muss man sagen: Stopp! Dieser Punkt ist in Langenau schon längst erreicht.

Er wird selbst von Palästina-Aktivisten in Langenau angefeindet: Ernst-Wilhelm Gohl, evangelischer Landesbischof von Württemberg, Foto: ELK Würrtemberg

Ausgangspunkt war damals ja Ihr Kanzelwort zu den Hamas-Terrorangriffen vom 7. Oktober, das Pfarrer Sedlak dann im Gottesdienst verlas.
Ja. Wobei er gar nicht dazu kam, es zu verlesen, denn der Störer ging gleich zu Beginn dazwischen, bevor der Text überhaupt verlesen werden konnte. Die bloße Erwähnung des Überfalls vom 7. Oktober hielt er nicht aus.

Ist der 75-jährige Mann – laut »Bild« ein pensionierter Diplomat, der in Langenau wohnt – denn selbst Mitglied der evangelischen Kirchengemeinde?
Das weiß ich nicht. Man darf aber vermuten, dass er an jenem Tag gezielt in den Gottesdienst kam, um diesen zu stören, da das Kanzelwort schon zwei Tage zuvor öffentlich gemacht wurde.

Stießen Ihre Kanzelworte zum 7. Oktober auch in anderen Gemeinden der württembergischen Landeskirche auf solch heftige Reaktionen?
Nein, das war nur in Langenau der Fall. Es gab aber auch kritische Nachfragen. Dennoch zeigt dieser Vorfall einmal mehr, dass es auch bei uns Christen noch latenten Antisemitismus gibt. Das zeigt auch der Blick in die Kirchengeschichte: von den Kirchenvätern, über Martin Luther bis in die 1930er Jahre. Christen haben leider einen unseligen Anteil am Antisemitismus. Deshalb ist die weltweite Christenheit zur eindeutigen Solidarität mit unseren jüdischen Geschwistern aufgefordert. Was nicht heißt, dass wir nun das Leid in Gaza oder die Gewalttaten jüdischer Siedler im Westjordanland ignorieren dürfen.

Das klingt sehr pessimistisch …
Der jüdisch-christliche Dialog hat viel erreicht, zum Beispiel im Hinblick auf den Antisemitismus bei der Exegese. Aber die Plakate der Demonstrierenden in Langenau zeigen, wie viel Bodensatz an antijüdischen Stereotypen immer noch existiert. Dabei bräuchte es gerade jetzt eine klare Haltung.

Antisemitische Schmiereien an der Martinskirche in Langenau

Wie ausgeprägt ist die Solidarität in Ihrer Landeskirche mit Pfarrer Sedlak und seiner Familie? Wird das in anderen Kirchengemeinden überhaupt thematisiert?
Es gab und gibt Unterstützung. Die verantwortliche Prälatin und der Dekan in Ulm stehen mit Herrn Sedlak in ständigem Austausch. Es gab Unterschriftsaktionen von Kolleginnen und Kollegen und aus anderen Gemeinden. Ich selbst war vor Ort und habe in Langenau einen Gottesdienst gehalten. Und im September findet ein Benefizkonzert statt. Aber diese anderthalb Jahre haben unglaublich viel Kraft gekostet. Diese Palästina-Aktivisten haben sehr viel Energie. Die Gemeindemitglieder, die Pfarrer Sedlak vor Ort den Rücken stärken, werden langsam mürbe, was ja auch verständlich ist, wenn man Sonntag für Sonntag vor der Kirche so angegangen und verunglimpft wird. Es ist ein regelrechter Psychoterror, der dort auf sie, den Pfarrer und seine Familie ausgeübt wird.

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Wünschen Sie sich mehr Engagement vor Ort, auch von der weltlichen Gemeinde?
Ja. Es wäre echt ein starkes Zeichen, wenn mehr Bürgerinnen und Bürger von Langenau sich hinstellen und sagen würden: Egal, ob evangelisch, katholisch, muslimisch oder Agnostiker, wir lassen nicht zu, dass an Wände in unserem Ort wieder Parolen geschmiert werden wie »Juden vergasen«. Da muss die Mehrheit doch Flagge zeigen und sagen: So was geht nicht, jetzt ist Schluss!

Schon vor einigen Monaten versprach die Langenauer Bürgermeisterin Daria Henning (CDU), man werde handeln. Sind Sie enttäuscht, dass bislang so wenig geschehen ist?
Ich hätte mir von der Kommune gewünscht, dass sie eindeutiger Haltung zeigt und sagt: Ja, wir achten das Recht auf Meinungsfreiheit, aber es endet da, wo Menschen diffamiert werden und wo Israel das Existenzrecht abgesprochen wird. Hier ist Haltung gefragt. Es braucht jetzt eine Allgemeinverfügung, das heißt: ein Demonstrationsverbot vor der Martinskirche.  

Sie fordern dies ja schon länger. Aber verstehen Sie nicht auch die juristischen Bedenken der Bürgermeisterin?
Mir ist klar, dass rechtlich nicht alles machbar ist, was wünschenswert wäre. Aber sich zumindest klar zu positionieren, das ist möglich. Es reicht nicht zu sagen, alles sei schwierig, man könne da nichts tun. Ich will der Bürgermeisterin nichts Böses unterstellen. Aber es ist ein Trugschluss zu meinen, solche Konflikte bekäme man irgendwie aus der Welt, wenn man sie einfach weiterlaufen lässt. Man darf diese Sache nicht aussitzen.

Macht die Landesregierung von Baden-Württemberg genug?
Die Abgeordneten vor Ort und die Landespolitik waren und sind klar auf Seite von Pfarrer Sedlak. Michael Blume, der Beauftragte der Landesregierung gegen Antisemitismus, hat bei einer Veranstaltung in Langenau auf sehr gute Weise versucht einzuwirken. Die Kommune Langenau muss handeln. Wenn sie das tut, kann auch die Polizei aktiv werden. Die Abgeordneten und auch Minister haben sich immer wieder zu Wort gemeldet – auch in diesen Tagen, um deutlich zu machen: Es braucht nun die Allgemeinverfügung. Denn wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, der nicht mehr hinnehmbar ist.

Sie haben die jüngste Erklärung des Weltkirchenrats (ÖKR) scharf kritisiert, in der Israel Apartheid vorgeworfen, die Hamas aber gar nicht erwähnt wird. Aber geht bei diesem Thema nicht ein Riss durch die evangelischen Kirchen, auch in Deutschland?
Einen solchen Riss nehme ich in Deutschland nicht wahr. Die EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs hat sich von der Erklärung des ÖRK klar distanziert und Kritik an der Verwendung des Begriffs »Apartheid« geäußert. Ich persönlich halte die Erklärung für verheerend. In Zeiten, in denen weltweit der Antisemitismus zunimmt, dürfen Kirchen diesen nicht noch durch Kampfbegriffe wie »Apartheid« verstärken. Mich bedrückt, dass dieser Erklärung ausgerechnet ein Wort des Propheten Amos vorangestellt ist, das eine der schärfsten Kritiken an Israel enthält. Hier eignet sich christliche Kirche Kritik eines jüdischen Propheten an, um Israel zu kritisieren. Das geht nicht! Ich hatte gehofft, dass wir nach Jahrzehnten des jüdisch-christlichen Dialogs und der antisemitismussensibler Exegese weiter wären. Leider habe ich mich getäuscht.

Mit dem Bischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg sprach Michael Thaidigsmann.

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