Neonazismus

Kontrolle ist besser

»Bei den Sicherheitsbehörden müssen grundlegende Strukturen geändert werden«: Sebastian Edathy Foto: dpa

Ein Besuch im Büro von Sebastian Edathy ist für Nichtraucher in etwa so angenehm, wie für einen Verfassungsschützer eine Aussage vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss zum »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU), dem der 43-jährige SPD-Innenpolitiker seit Anfang dieses Jahres vorsitzt. In eine Rauchwolke gehüllt, erklärt Edathy die Aufgabe seines Ausschusses, nämlich das Versagen der Sicherheitsbehörden in den NSU-Ermittlungen aufzuklären. Dabei fällt häufig der Begriff »Kontrolle«, den der studierte Soziologe sehr ernst nimmt.

versäumnisse Schließlich hat die Exekutive im Umgang mit der rechtsextremen Gewalt in Deutschland in den vergangenen Jahren komplett versagt, auch weil niemand die Sicherheitsbehörden – allen voran den Verfassungsschutz – richtig kontrollierte. Die zehn NSU-Morde stehen dabei stellvertretend für mindestens 139 weitere Todesopfer rechtsextremer Gewalt im vereinigten Deutschland seit 1990.

Darunter sind viele Fälle, in denen das Versagen der Sicherheitsbehörden ähnlich eklatant war wie im Fall NSU. Wenigstens diesen Komplex arbeiten der Bundestaguntersuchungsausschuss und ähnliche parlamentarische Gremien in Sachsen und Thüringen jetzt akribisch auf.

Auch in Dresden, wo Sabine Friedel für die SPD als Mitglied im Untersuchungsausschuss »Neonazistische Terrornetzwerke in Sachsen« sitzt. »Das gleicht der Arbeit in einem Kiesbett, sagt sie: «Es gibt nicht den einen großen Stein, den wir umdrehen müssen, sondern es gilt, jeden einzelnen kleinen Stein umzudrehen.» Immerhin: Auch wenn noch viele Versäumnisse der Verfassungsschutzbehörden aufzuarbeiten seien, «fangen die hierarchisch strukturierten Behördenapparate langsam an, ihre Arbeit und ihr Handeln zu hinterfragen.»

Sechs Behördenleiter des Verfassungsschutzes mussten mittlerweile ihren Abschied nehmen: im Bund, in Berlin, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Nordrhein-Westfalen. Dort überall musste in den vergangenen Monaten konstatiert werden, dass der Verfassungsschutz als angeblich «unverzichtbares Frühwarnsystem» versagt hatte. Als solches hatte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) die Behörde noch einige Monate vor Bekanntwerden des NSU-Debakels gepriesen, und ihr «gute und wertvolle Arbeit» attestiert.

Davon kann inzwischen keine Rede mehr sein, angesichts der fragwürdigen V-Leute-Praxis, der Manipulation von Computerdateien und der umfangreichen Aktenvernichtungen. Längst ist klar, dass die bislang in den NSU-Ermittlungen involvierten Sicherheitsbehörden kein Interesse an der Aufklärung ihrer Versäumnisse haben.

enttäuschung Und so überwiegt bei Edathy die Enttäuschung über die Arbeit der Verfassungsschutzbehörden, die zu spät auf eindeutige Hinweise reagiert hätten. «Es ist keine Lösung, nur Personal auszutauschen, bei den Sicherheitsbehörden müssen grundlegende Strukturen geändert werden», konstatiert der Abgeordnete. Das dürfte die nächste politische Aufgabe sein, nachdem Beate Zschäpe und vier mutmaßlichen Helfer und Unterstützer des Terrortrios demnächst vor dem Oberlandesgericht München angeklagt werden.

Unterdessen laufen in Sebastian Edathys Büro weiterhin Informationen, Anfragen und Hinweise zusammen, mit denen die Ausschussmitglieder die vorgeladenen Zeugen der verschiedenen Sicherheitsbehörden konfrontieren. Auch zur Bundesanwaltschaft besteht Kontakt. In Fachkreisen hat sich der Bundestagsuntersuchungsausschuss viel Anerkennung erarbeitet. Auch bei den Opfern: «Ja, endlich klären sie all das auf, was die Polizei in den vergangenen Jahren versäumt hat, in denen wir keine Opfer sein durften», sagt eine enge Familienangehörige eines Kleinunternehmers, der mutmaßlich von Mundlos und Bönhardt erschossen wurde.

Opferfamilien Auch Barbara John (CDU), die Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der Opfer des NSU-Terrors, tauscht sich mit Edathy aus; gemeinsam vermitteln sie zwischen Opfern, Politik, Zivilgesellschaft und der Polizei. So kritisierte John zu Beginn des Jahres, dass die Polizei kaum Verbindung in die Opferfamilien hinein halte, obwohl diese dringend Aufklärung und Gewissheit bräuchten. Inzwischen kümmern sich in einigen Tatort-Städten die Polizeipräsidenten höchstpersönlich um die betroffenen Familien. «Aber was bringt das alles? Es ist doch jetzt Jahre zu spät!», sagt die Opfer-Angehörige.

Es ist zu spät für die NSU-Opfer, aber nicht zu spät für einen gesellschaftlichen Wandel: «Ich wünsche mir von den Untersuchungsausschüssen, von der Politik insgesamt, dass sie allmählich dem menschenfeindlichen Klima in Deutschland entgegen wirken, in dem immer noch täglich Menschen zu Opfern rechtsextremer Gewalt werden», sagt Claudia Luzar von der Opferberatungsstelle «Back Up» in Nordrhein-Westfalen, wo die NSU-Terroristen auch getötet haben.

Initiative

Bayerns Landtag will Yad-Vashem-Bildungszentrum in Freistaat holen

Die Idee hatte die Ampel-Koalition von Olaf Scholz: Eine Außenstelle der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Deutschland. Der Bayerische Landtag hat sich nun für einen Standort im Freistaat ausgesprochen

von Barbara Just  10.12.2025

Paris/Brüssel

EU-Gaza-Hilfe: Französischer Politiker hat »große Bedenken«

Benjamin Haddad, Frankreichs Staatssekretär für Europafragen, hat die Europäische Kommission aufgefordert, ihre Zahlungen an NGOs, die im Gazastreifen operieren, besser zu überwachen

 10.12.2025

Aufarbeitung

Französische Entnazifizierungs-Dokumente erstmals online abrufbar

Neue Hinweise zu Leni Riefenstahl und Martin Heidegger in der NS-Zeit: Künftig können Forscher online auf französische Akten zugreifen. Experten erwarten neue Erkenntnisse

von Volker Hasenauer  10.12.2025

Deutschland

Wegen Antisemitismus und AfD: Schauspiellegende Armin Mueller-Stahl (95) denkt ans auswandern

Armin Mueller-Stahl spricht offen über seine Gelassenheit gegenüber dem Tod – und warum aktuelle Entwicklungen ihn dazu bringen, übers Auswandern nachzudenken

 10.12.2025

Justiz

Mutmaßlicher Entführer: Chef eines israelischen Sicherheitsunternehmens packt aus

Die Hintergründe

 10.12.2025

Fußball

Sorge vor Maccabi-Spiel in Stuttgart

Tausende Polizisten, Metalldetektoren beim Einlass, Sorge vor Gewalt: Warum der Besuch von Maccabi Tel Aviv in der Europa League beim VfB aufgrund der politischen Lage kein sportlicher Alltag ist.

 10.12.2025

Brüssel

Keine Nato-Rüstungsaufträge mehr an israelische Firma?

Einem Bericht verschiedener Medien zufolge ist Israels führendes Wehrtechnikunternehmen Elbit Systems wegen Korruptionsverdachts vorläufig von weiteren Vergabeverfahren ausgeschlossen worden

 10.12.2025

Polen

Neun polnische KZ-Opfer werden im Juni seliggesprochen

Die Nationalsozialisten brachten in Dachau und Auschwitz auch Hunderte polnische Priester um. Die katholische Kirche verehrt mehrere von ihnen als Märtyrer. Bald werden neun weitere Geistliche in Krakau seliggesprochen

 10.12.2025

Soziale Medien

Historiker: Geschichte von tanzendem Mädchen in KZ frei erfunden

Ein Faktencheck

 10.12.2025