Meinung

Jede Geisel, die nach Hause zurückkehrt, steht für unser aller Überleben

Esther Schapira Foto: Chris Hartung

Zu Hause. Endlich. Bis zum allerletzten Moment waren sie dem Terror in Gaza ausgesetzt, umringt von einer aufgepeitschten Menschenmenge, die »Allahu Akbar« brüllte, sie bedrängte, begaffte und bedrohte. Die Freilassung von drei verschleppten jungen Frauen geriet zu einer perversen Macht-Show ihrer Folterer, die ihren »Sieg« feiern. Welchen Sieg? Zehntausende Tote durch einen Krieg, den die Hamas am 7. Oktober 2023 begonnen hat. Wer kann da jubeln?

In Israel feiern die Menschen und trauern zugleich. Sie freuen sich über die Freilassung und bangen um die verbliebenen Geiseln. Es zerreißt ihnen das Herz, wenn sie an die vielen Opfer denken, und die allermeisten hoffen inständig, dass die Waffenruhe halten möge, auch wegen der leidenden Bevölkerung in Gaza.

Freilassung der Geiseln und Frieden für Israel

Doch wer fordert auf palästinensischer Seite die Freilassung der Geiseln und Frieden für Israel? Die Nachrichtenbilder vermitteln den Eindruck, dass die Bevölkerung hinter den Terroristen steht. Vielleicht aber tappen wir nur in eine neue Propagandafalle der Selbstinszenierung der Hamas? Eine Luftaufnahme, die im Netz kursiert, lässt den Massenauflauf jedenfalls auf wenige Hundert schrumpfen.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Mag sein, dass der Rückhalt der Hamas in Gaza längst geringer ist als bei ihren Anhängern weltweit und in der diplomatischen Arena. Den politischen Aufstieg zum seriösen Verhandlungspartner auf Augenhöhe kann die Hamas jedenfalls als gewonnene Propaganda­schlacht feiern. Schlagzeilen etwa, die vom »Geisel­austausch« sprechen, ordnen entführte und gefolterte Zivilisten in dieselbe Kategorie ein wie rechtsstaatlich verurteilte Mörder.

»Wiedersehen auf beiden Seiten« macht daraus die »Tagesschau« auf Instagram und zeigt abwechselnd Bilder von israelischen Geiseln mit ihren Familien und von freigepressten palästinensischen Häftlingen. Täter, Opfer, alles eins.

Kampf um Menschlichkeit

Was dabei ausgeblendet wird: Wer den Kampf um Menschlichkeit gewinnen will, wird diese Schlacht immer verlieren müssen. Israel gibt, anders als sein Gegner, keinen einzigen Menschen verloren, nicht einmal im Tod. Wie passend, dass dieser 19. Januar am Morgen mit der Befreiung einer anderen Geisel begann.

Im Gaza-Krieg 2014 hatte die Hamas den Leichnam des Soldaten Sergeant Oron Shaul entführt. Ausgerechnet an diesem historischen Tag konnte er nach Hause gebracht werden. Was die »Heiligen Krieger« für Schwäche halten, ist in Wahrheit aber die moralische Stärke, füreinander einzustehen.

Israel gibt, anders als sein Gegner, keinen einzigen Menschen verloren.

Nie mehr wehrlos den Mördern ausgeliefert zu sein, endlich einen sicheren Ort zu haben – das war das große Versprechen der Staatsgründung für alle Juden nach der Schoa. Das Versprechen »Sicherheit« konnte Israel am 7. Oktober nicht halten, umso wichtiger ist das Versprechen »Nie wieder wehrlos«.

Bislang war die Schoa die biografische und historische Wegmarkierung aller Nachgeborenen. Sie teilte unser Leben in ein »Davor« und »Danach«. Nun kommt eine weitere hinzu. »Das schlimmste Massaker seit der Schoa« – das ist mehr als eine nüchterne Feststellung der Opferzahlen. Bei aller Singularität der Schoa gibt es Assoziationen, die nicht mehr verschwinden werden: der Blick in den Abgrund an Grausamkeit. Der Stolz der Mörder auf ihre Tat. Der Hass, der alle Juden trifft. Der Kampf ums Weiterleben und die Rückkehr ins Leben nach dem Überleben.

»Davor« und »Danach«

An diesem 27. Januar, dem 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, ist es für die verbliebenen Geiseln bereits Tag 479 in der Hölle von Gaza. Wenn das Abkommen hält und hoffentlich alle Phasen umgesetzt werden, kommen auch sie am Ende frei. Irgendwann werden wir nicht mehr in Tagen rechnen, aber immer in »Davor« und »Danach«. Die historisch überlieferte Erfahrung des Verrats und der Ausgrenzung ist nun zu einer persönlich erlebten geworden.

Juden werden weltweit zu Parias. Die Mörder dagegen werden auch von Angehörigen der akademischen und kulturellen Elite umarmt. Diese Erfahrung wird bleiben. Es gibt keine sicheren Räume mehr. Egal wo. Es gab sie wohl nie. Aber »davor« war es leichter, dieser bitteren Wahrheit auszuweichen. Um sie zu ertragen, braucht es Verbündete und Gleichgesinnte.

Lesen Sie auch

Trotz aller politischen Unterschiede hielt die überwältigende Mehrheit in Israel und der Juden in der Diaspora den Atem an und verfolgte am Bildschirm das Wunder, dass die ersten drei Geiseln lebend zurückgekehrt sind. Andere Bilder werden kommen. Grausame Bilder. Tote Geiseln gegen lebende Terroristen. Ein unerträglicher Preis, der dennoch gezahlt werden muss. Die Bilder der drei jungen Frauen, die nach 471 Tagen endlich wieder von ihren Müttern umarmt wurden, trösten uns alle und erinnern uns daran, worauf es wirklich ankommt.

Die jüdische Geschichte ist geprägt von Pogromen und der Feier des Überlebens. Jedes gerettete Leben ist ein Sieg über den Tod. Jede einzelne Geisel, die nach Hause zurückkehrt, steht für unser aller Überleben. »Bejachad Nenatzeach« – »Zusammen werden wir siegen« und trauern und feiern. Zusammen siegen heißt vor allem zusammen überleben. Das ist der größte Sieg.

Die Autorin ist Journalistin und Filmemacherin.

Interview

»Wir müssen viel mehr für die Rückführung von Antisemiten tun«

Der Bundestagsabgeordnete Johannes Volkmann (CDU) über den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland, die zögerliche Reaktion der Politik und Abschiebungen als Gefahrenabwehr

von Joshua Schultheis  13.11.2025

Berlin

Wegner setzt im Fördermittelstreit auf Aufklärung

»Es sind Vorwürfe im Raum, die muss man sich genau anschauen. Und dann werden wir gegebenenfalls, wenn es notwendig ist, die richtigen Konsequenzen ziehen«, betont der Regierende Bürgermeister

 12.11.2025

Deutschland

Waffen für Anschläge besorgt: Weiteres Hamas-Mitglied festgenommen

Der Mann soll ein Sturmgewehr, mehrere Pistolen und Munition für Anschläge auf jüdische und israelische Einrichtungen besorgt haben

 12.11.2025

Justiz

Anklage wegen Hausverbots für Juden in Flensburg erhoben

Ein Ladeninhaber in Flensburg soll mit einem Aushang zum Hass gegen jüdische Menschen aufgestachelt haben. Ein Schild in seinem Schaufenster enthielt den Satz »Juden haben hier Hausverbot«

 12.11.2025

Einmischung

Trump fordert Begnadigung Netanjahus

Israels Regierungschef Netanjahu steht wegen Betrugs, Bestechung und anderer Vorwürfe vor Gericht. Israels Präsident müsse ihn begnadigen, forderte nun US-Präsident Trump - damit er das Land vereinen könne

 12.11.2025

Sabine Brandes

Wie Donald Trump Israels Demokratie angreift

Der US-Präsident hat angekündigt, in den Korruptionsprozess gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu eingreifen zu wollen. Damit geht der Amerikaner eindeutig zu weit

von Sabine Brandes  12.11.2025

Interview

»Niemand hat Jason Stanley von der Bühne gejagt«

Benjamin Graumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, weist die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, Unwahrheiten über den Abend in der Synagoge zu verbreiten

von Michael Thaidigsmann  12.11.2025

Hessen

Margot Friedländer erhält posthum die Wilhelm-Leuschner-Medaille

Die Zeitzeugin Margot Friedländer erhält posthum die höchste Auszeichnung des Landes Hessen. Sie war eine der wichtigsten Stimme in der deutschen Erinnerungskultur

 12.11.2025

Berlin

Verhandlung über Waffenlieferungen an Israel

Insgesamt sechs Kläger wollen vor dem Berliner Verwaltungsgericht in zwei Fällen feststellen lassen, dass der Export deutscher Rüstungsgüter an Israel rechtswidrig war. Eine Entscheidung wird noch für Mittwoch erwartet

 12.11.2025