Boris Palmer

»Ich kann nicht die Gosch halten«

Ist seit 2007 Oberbürgermeister von Tübingen: Boris Palmer Foto: IMAGO/Eibner

Herr Palmer, am 7. Oktober wurden die schlimmsten Massaker an Juden seit dem Holocaust verübt. Was ging in Ihnen vor, als Sie davon hörten?
Ich habe mich zunächst gefragt: Da ist doch eine Grenze, die ist doch gesichert, wie kommen die da überhaupt durch? Der Moment, als mir die Frage in den Sinn kam: Hört das eigentlich nie auf? war, als ich von dem Massaker auf dem Technofestival erfahren habe. Hunderte fröhlicher junger Leute, die einfach abgeschlachtet werden.

In Deutschland gab es vergleichsweise wenige Solidaritätskundgebungen mit Israel, im Gegensatz zum Februar 2022, als die Ukraine überfallen wurde. Interessiert Israel die Deutschen nicht?
Ich erlebe schon sehr viel Betroffenheit bei den Menschen. Aber so, wie es im Fall der Ukraine die »Russlandversteher« gibt, gibt es hier die »Palästinaversteher«. Selbst zu Themen, bei denen man eigentlich denkt, da kann man doch gar nicht verschiedener Meinung sein, gibt es in der Gesellschaft nicht wenige, die trotzdem eine konträre Auffassung vertreten. Warum sind viele Leute so? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht, und ich habe auch kein Verständnis dafür. Aber ich muss zur Kenntnis nehmen, dass es so ist.

An vielen Orten in Deutschland demonstrieren Menschen gegen Israel, skandieren antisemitische Parolen, tragen die Flaggen verbotener Organisationen. Was kann dagegen machen?
Wir versuchen dem in Tübingen mit möglichst präzisen Auflagen entgegenzuwirken. Der Polizei habe ich politische Rückendeckung zugesichert, gegen antisemitische und volksverhetzende Plakate einzuschreiten. Das verhindert das Schlimmste, aber es bleibt trotzdem vieles unerträglich. Ich habe ein Plakat »Stoppt den Genozid« in Tübingen auf einer Demonstration gesehen. Der Vorwurf, Israel betreibe einen Genozid, ist unfassbar infam, aber die Formulierung ist juristisch so offen, das man nichts machen kann.

Unternehmen Polizei und Justiz nicht zu wenig dagegen?
In der Corona-Zeit, als ich mit übelsten Beschimpfungen und Drohungen, teilweise auch antisemitischer Natur, überzogen wurde, bekam ich eine E-Mail. In der stand wörtlich, mein Vater hätte besser an einem Viehwaggon abgespritzt im Krieg, anstatt mich zu zeugen. Und was wurde dagegen unternommen, was ist passiert? Nichts! Entweder gelingt es nicht, diese Leute zu ermitteln, oder die Verfahren werden aus fadenscheinigen Gründen eingestellt. Mir erscheint der Staat als zu wenig wehrhaft. Beim Antisemitismus gibt es doppelte Standards. Einerseits wird immer der Kampf gegen rechts beschworen, es werden Brandmauern errichtet. Andererseits zeigen Teile der Linken eine erstaunliche Toleranz gegenüber dem Judenhass, der von scheinbar unterdrückten Minderheiten artikuliert wird.

Spüren Sie das auch in Tübingen?
Ich hatte vor zwei Jahren hier eine Nakba-Demonstration, an der mehrere Hundert Leute teilnahmen. Dort wurde laut Beifall geklatscht, als es um das »freie Palästina vom Jordan bis zum Meer« ging, also das Existenzrecht Israels geleugnet wurde. Das alles hat erstmal außer mir kaum jemanden gestört. Auch jetzt gibt es wieder Plakate, auf denen Israel als Besatzungsmacht beschimpft wird. Das ist es, was ich schrecklich finde: Dass Menschen wegschauen, wenn der Antisemitismus aus einer politischen Richtung kommt, der sie sich selbst irgendwie zugehörig fühlen.

Glauben Sie, der Antisemitismus wird irgendwann einmal verschwinden?Zu unseren Lebzeiten definitiv nicht.

Hat Deutschland, hat die Bundesregierung angesichts des Krieges in Nahost bisher richtig agiert?
Im Detail kann ich das nicht beurteilen. Mich hat es aber geschmerzt, dass Deutschland nicht bei den Ländern war, die in der UNO mit Israel gestimmt haben. Verlassen kann sich Israel anscheinend doch nur auf die USA, wenn es hart auf hart kommt.

Sie haben einen jüdischen Großvater. Hat das Jüdische in Ihrer Jugend eine Rolle gespielt? Wurde in der Familie darüber gesprochen?
Vorneweg: Ich bin kein Jude, weder aus halachischer Sicht noch von mir selbst aus. In der Beziehung gibt es ja mittlerweile unschöne Geschichten in Deutschland. Ich wurde auch nicht jüdisch erzogen und habe keine Einführung in die jüdische Religion erfahren. Und trotzdem hat das eine große Rolle gespielt. Es gab und gibt ja Antisemitismus, ohne dass es Juden gibt. Und obwohl ich kein Jude war, habe ich Erlebnisse gehabt, die man sich eigentlich nur mit Antisemitismus erklären kann.

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Können Sie ein Beispiel nennen?
Einmal rief mir eine größere Gruppe Halbstarker im Freibad nach, dass man doch vergessen habe, meinen Vater zu vergasen. Es war im Ort bekannt, dass er jüdische Vorfahren hatte. Als er zur Schule ging während der Nazi-Zeit, wurde er von einem Lehrer nicht Helmut, sondern Moses genannt. Mein Vater hatte großes Glück, nicht deportiert zu werden. Er war ein uneheliches Kind, hatte selbst nie Kontakt zu seinem leiblichen jüdischen Vater und ihn nie gesehen, denn die Familie musste 1936 emigrieren. Zum Glück haben sie das noch geschafft, muss man im Rückblick sagen.

Haben Sie mit dieser Familie Kontakt?
Ja. Mein Vater ging davon aus, dass die Mitglieder dieser Familie im Holocaust umgekommen seien. Es gab keinerlei Informationen über ihren Verbleib. Erst als eine meiner Schwestern Ende der 90er Jahre anfing, im Internet zu recherchieren, stieß sie auf die Familie in Washington und nahm Kontakt auf. Es stellte sich heraus, dass mein Vater einen sieben Jahre älteren Halbbruder hatte. Diesen Onkel von mir sah ich dann zum ersten Mal 2005, als er 72 war. Er kam dann nochmals in seine alte Heimat, nach Königsbach in Baden.

Wie hat er reagiert?
Wir sind zusammen durch den Ort gegangen und haben uns den jüdischen Friedhof angesehen. Der war in den 90er Jahren mit Hakenkreuzen beschmiert worden und ist seitdem mit einem Zaun gesichert. Als wir dort waren, gab es aber kein einziges Zeichen der Erinnerung, kein Schild, keine Tafel, nichts. Das hat meinen Onkel empört. Er war bereits zehn Jahre zuvor einmal in Königsbach gewesen, da wusste er noch nichts von uns. Er erzählte, wie er damals beim Anblick des Ortes geschworen hatte: In dieses Land komme ich nie mehr zurück.

Hat sich seitdem etwas geändert?
Ja. Mittlerweile gibt es eine Initiative, die die Geschichte der Königsbacher Juden etwas aufgearbeitet hat. Es wurde eine kleine Broschüre gemacht und man hat eine Tafel aufgestellt. Aber das dauerte 70 Jahre …

Blicken Sie wegen des jüdischen Teils Ihrer Familiengeschichte mit anderen Augen auf Israel und den Nahostkonflikt oder auf Aspekte wie den Antisemitismus?
Um zu wissen, ob der Blick anders wäre, wenn es diese Geschichte nicht gäbe, müsste ich den Blick anderer Leute besser verstehen. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, ich verstehe manches überhaupt nicht, was ich da sehe. Ich kann zum Beispiel nicht begreifen, warum ein Tübinger Pfarrer eine Kachel im Netz verbreitet, auf der es heißt, Solidarität mit Israel bedeute auch, an der Seite der Palästinenser zu stehen, die nicht alle Terroristen seien. Und das unmittelbar nach den Ereignissen vom 7. Oktober ! Da frage ich mich: Wie kann man überhaupt auf solche Gedanken kommen? Diese fehlende Bereitschaft, sich mal klar auf die Seite der angegriffenen Israelis zu stellen, ist mir unerklärlich. Ob das mit meiner Familiengeschichte zu tun hat oder nur mit einem normalen Gerechtigkeitsempfinden, kann ich nicht sagen. In meiner Familie gab es nie Erzählungen, wie sie offenbar im Hause Aiwanger existierten und wie ich sie aus den 80er Jahren in Erinnerung habe, Sätze wie »Das mit den Juden, ja, aber damit hatten wir ja nichts zu tun, wir waren keine Nazis«.

Sie haben auf Facebook geschrieben, dass der Kampf gegen rechts gescheitert sei und sogar zum Rechtsruck beigetragen habe. Man müsse mit den Enttäuschten reden. Aber kann man mit Menschen reden, die rechtsextreme Einstellungen haben?
Wenn es um gefestigte Rechtsextremisten und Antisemiten geht, nein. Aber ich teile nicht die Unterstellung, dass im Osten Deutschlands plötzlich 35 Prozent der Menschen Rechtsextremisten seien. Wäre das so, wäre der demokratische Staat verloren! Es stimmt aber nicht. Man muss trennen zwischen dem rechtsextremen, antisemitischen und offen verfassungsfeindlichen Teil und der Wählerschaft, die man aus intellektueller Sicht vielleicht für etwas einfach gestrickt wahrnimmt, die aber durchaus ernsthafte Anliegen hat. Wenn man diese einfach ignoriert oder diffamiert, treibt man die Leute in die Arme von Rechtsextremisten. Das sollte man tunlichst vermeiden.

Ist das eigentliche Problem nicht das Schwarzweißdenken, die Sehnsucht nach einfachen Antworten? Wie kann die Politik das in den Griff kriegen?Was den Kampf gegen die AfD angeht: Man sollte zunächst mal empirisch feststellen, was er gebracht hat. Das klappt ja gerade nicht besonders gut, oder? Man muss ernsthaft die Befragungen der AfD-Wähler analysieren, in denen sie sagen, warum sie diese Partei wählen. Natürlich geben da die meisten nicht offen zu, wenn sie antisemitische Einstellungen haben. Aber sie sagen doch sehr offen, dass sie mit der Zuwanderungspolitik nicht einverstanden sind, dass ihrer Meinung nach zu viele Migranten ins Land kommen und hier Sozialleistungen beziehen. Alle anderen Themen landen unter Fernerliefen. Mit anderen Worten: Wenn ich die Leute davon abhalten möchte, AfD zu wählen, muss ich Antworten in der Migrationspolitik finden. Und diese Antworten können nicht darin bestehen, dass man immer noch mehr Geld bereitstellt, um neue Flüchtlingsunterkünfte zu bauen, wie meine frühere Partei, die Grünen, das stoisch behauptet.

Das ist aber kein neues Problem …
Nein. Aber es ist interessant, dass mittlerweile fast alle – der Gemeinde- und Städtetag, die Ministerpräsidenten, mindestens 1000 Bürgermeister und Landräte aus verschiedenen Parteien – dasselbe sagen. Wir haben an den Bundeskanzler geschrieben und deutlich gemacht, dass wir vor Ort überfordert sind und dass die die Zahl derer, die da kommen, reduziert werden muss. Dass zu viele Sozialleistungen ausgezahlt werden. Wissen Sie, was bemerkenswert ist: Olaf Scholz hat auf keinen einzigen dieser Briefe bislang geantwortet. Das Problem wird einfach ignoriert, die kommunalen Hilferufe verhallen. Dass in einer solchen Lage viele Leute AfD wählen, ist aus deren Sicht zweckrational.

Warum?
Solange nur die Bürgermeister und Landräte sagen, dass es so nicht weiter gehen kann, interessiert es die Bundespolitik nicht. Nur wenn zwei Landtagswahlen krachend verloren gehen, weil die AfD massiv an Stimmen gewinnt, kommt es plötzlich zu einer Veränderung. Viele Leute merken genau, dass das das Einzige ist, was hilft. Ich werfe der Politik vor, dass sie der AfD dieses Geschäftsmodell einfach durchgehen lässt. Man muss ernst nehmen, was Bürgermeister und Landräte sagen, die nicht von der AfD sind, und nicht erst reagieren, wenn Wahlen so katastrophal ausgehen.

Ist eine Lösung beim Thema Zuwanderung wirklich das Patentrezept, um die AfD kleinzukriegen?
Es gibt einen Bodensatz von 5 bis 10 Prozent an Menschen, die rechtsextreme Einstellungen haben. Damit kann unsere Gesellschaft fertigwerden. Aber mit einer anderen Zuwanderungspolitik könnten wir der AfD zwei Drittel ihrer jetzigen Wähler abspenstig machen. In Hessen sind bei der Landtagswahl im Oktober 12 Prozent der Wähler nach rechts gewandert. Vor fünf Jahren wählten die meisten von denen noch Grüne, Linke oder SPD. Und damals waren wir ja der Meinung, dass es sich um anständige Demokraten handelt. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie in nur fünf Jahren zu üblen Rechtsextremisten mutiert sind.

Muss die Brandmauer gegen Rechts weg?
Der Begriff zeigt schon, wie schwierig das ist. Eine Brandmauer drückt mehr eine Schwäche aus als Stärke. Der Begriff signalisiert, dass es auf der anderen Seite lichterloh brennt. Anstatt den Brand zu löschen, hoffen wir aber nur, dass wir nicht erfasst werden vom Feuer, weil wir eine Brandmauer errichtet haben.

Aber finden Sie nicht, dass ein Flächenbrand verhindert werden muss?
Mir fehlt da die Überzeugung, dass man Demokraten grundsätzlich mit Argumenten erreichen kann oder es zumindest versuchen muss. Stattdessen zerlegt man das Land in zwei Teile, in einen brandgeschützten und einen niederbrennenden. Das kann keine erfolgreiche Strategie sein. Wir müssen dieses Mauerdenken überwinden. Natürlich darf man der AfD keine Machtpositionen einräumen. Nur: Gegen einen AfD-Landrat oder Oberbürgermeister, den das Volk gewählt hat, kann man laut unserer Verfassung wenig machen, der ist halt gewählt. Da kann ich als SPD- oder Grünen-Gemeinderat nicht sagen, wenn der reinkommt, verlassen wir den Saal. Das wird auf Dauer nicht funktionieren.

Was kann man stattdessen tun?
Wichtiger ist es, das eigene Selbstvertrauen zurückzugewinnen, und diese Wählerschaft so anzusprechen, dass sie sich ernst genommen fühlt, dass sie ihre Probleme in guten Händen weiß. Es gibt eine Verbindung zwischen den katastrophal schlechten Zufriedenheitswerten der amtierenden Bundesregierung und dem Aufstieg dieser rechtspopulistischen Partei. Wir brauchen ganz einfach bessere Lösungen. Und diese Bundesregierung ist bei der Migrationsfrage bislang nicht dazu in der Lage gewesen. Sie hat aus ideologischen Gründen das Problem schlicht nicht wahrhaben wollte. Jetzt bewegt sich etwas in die richtige Richtung.

Es gibt einen Kompromissvorschlag auf EU-Ebene, aber der ist sehr umstritten. Ist es realistisch anzunehmen, dass man dieses komplexe Problem lösen kann?
Meine größte Hoffnung ist, dass Deutschland eine europäische Lösung tatkräftig unterstützt, anstatt sie zu verzögern oder auszubremsen. Bislang bestand die deutsche Strategie darin, über das Europaparlament Abschwächungen zu erreichen und möglicherweise durch diplomatisches Aussitzen und Verzögern zu verhindern, dass am Ende etwas Neues dabei herauskommt. Genau das halte ich für fatal. Ich glaube, dass kein Land in Europa ein so großes Interesse an einer gemeinsamen europäischen Lösung hat wie Deutschland. Die größte Zahl der Zuwanderer in Europa kommt hierher. Deswegen wären einheitliche Asylverfahren an den EU-Außengrenzen das Beste, was Deutschland passieren könnte. Dass Deutschland aber eher genötigt werden musste, dem zuzustimmen, anstatt es aktiv zu betreiben, war eine Verleugnung unserer eigenen Interessen.

Haben Sie kein Verständnis, wenn Menschen es als ethisch-moralisch bedenklich empfinden, das Management der Zuwanderung an Länder wie Tunesien oder Libyen auszulagern, in denen elementare Menschenrechte missachtet werden?
Gegenfrage: Ist es denn ethisch-moralisch vertretbar, dass 700 Millionen Menschen auf der Welt hungern, während wir hier im großen Stil Lebensmittel wegschmeißen? Ist es ethisch-moralisch vertretbar, bei Diktatoren wie Putin Gas einzukaufen? Ich könnte Ihnen noch ganz viele Beispiele aufzählen, was alles ethisch-moralisch nicht vertretbar ist. Nur: Realpolitisch ist das Problem derzeit nicht aus der Welt zu schaffen. Unsere Welt wird nur schrittweise besser, und sie wird nicht dadurch besser, dass wir einem sehr kleinen Teil von Menschen Zutritt zu unseren Sozialsystemen gewähren. Global betrachtet helfen wir damit nur sehr wenigen, setzen wir unsere Gesellschaften so unter Stress, dass sie ihre Problemlösungsfähigkeit verlieren. Irgendwann wählen die Menschen dann rechte Regierungen, und die machen die Schotten ganz dicht. Und wenn das geschieht, sind wir nicht mehr in der Lage, die Welt zu verbessern.

Verschließen wir nicht einfach die Augen vor den Problemen?
Realpolitisch gesehen sind diese ethisch nicht akzeptablen Entscheidungen in der Außenpolitik an der Tagesordnung. Um auf unser Eingangsbeispiel zurückzukommen: Ethisch moralisch ist eigentlich nicht vertretbar, Zivilisten im Gazastreifen zu töten. Aber es führt manchmal kein Weg daran vorbei, weil die noch weniger ethisch-moralisch vertretbaren Hamas-Terroristen sich hinter Zivilisten verschanzen und sie mit Sicherheit, wenn man nicht reagiert, den nächsten Angriff auf Israel planen werden. Das sind Dilemmata, aus denen man nie mit weißer Weste rauskommt.

Sie haben im Frühjahr bei einer Veranstaltung in Frankfurt das N-Wort verwendet und Kritiker bezichtigt, Ihnen einen »Judenstern« anheften zu wollen und sich wie die Nazis gegenüber den Juden zu benehmen. Dann nahmen Sie eine Auszeit, ließen sich coachen. Sie sind jetzt ein anderer Boris Palmer? Lassen Sie sich heute nicht mehr so leicht provozieren?
Letzteres hoffe ich zumindest. Ich arbeite ich wirklich daran, dass es mir nicht wieder passiert. Andererseits: Ein anderer Mensch wird man mit 51 wahrscheinlich nicht nach vier Wochen Auszeit, das halte ich für unwahrscheinlich. Aber Techniken zu üben und zu praktizieren, sich nicht zu Dummheiten hinreißen zu lassen, das kann man auch mit 51 noch versuchen.

Sind Vergleiche mit der NS-Zeit nicht grundsätzlich unangemessen?
In Deutschland gibt es da zu Recht eine rote Linie. Solche Vergleiche, selbst wenn sie nicht abwertend oder antisemitisch gemeint sind und keine Gleichsetzung mit den NS-Verbrechen ausdrücken wollen, werden politisch instrumentalisiert. Was vielleicht im Logikseminar an der Universität noch zulässig ist, ist es in der Politik und der Öffentlichkeit nicht. Andernfalls entsteht nämlich eine Rechtfertigung für Antisemiten und Rechtsextremisten, ihrerseits Vergleiche zu ziehen, die überhaupt nicht tragbar sind. Deswegen muss da eine klare Grenze gezogen werden.

Haben Sie diese Grenze nicht selbst auch überschritten?
Absolut. Das war der wesentliche Fehler und nicht etwa die Auseinandersetzung darüber, welche Wörter in der deutschen Sprache noch verwendet werden dürfen.

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Beharren Sie diesbezüglich auf Ihrer Position?
Ja. Es kommt immer auf den Kontext an. Ein Wort an sich auszusprechen, bedeutet noch gar nichts. Wir verwenden auch nicht »H.« für Hitler, obwohl das, was dieser Mann an Verbrechen verübt hat, ja in der Weltgeschichte ohne Beispiel ist. Wir versuchen nicht, die Juden davor zu schützen, dass sie das Wort »Hitler« hören. Mein Judenstern-Vergleich war dennoch falsch, obwohl er sich subjektiv in der Situation angemessen anfühlte. In dem Moment dachte ich nicht über Politik nach, sondern war als Einzelperson einer Gruppe ausgesetzt, die mich niederbrüllte und sehr aggressiv auftrat. Meine Familiengeschichte interessierte keinen von denen, ich war für die ein Nazi und Rassist. Es fühlte sich an, als würde mir ein Kainsmal auf die Stirn gedrückt, um mal einen Begriff zu benutzen, den man verwenden kann.

Der Linken-Politiker Gregor Gysi verwendete vor ein paar Wochen in der ZDF-Sendung »Markus Lanz« das N-Wort, ohne es zu merken. Er bekam keinen Shitstorm ab. Fühlen Sie sich nicht unfair behandelt?
Gerechtigkeit darf man in der Politik nicht erwarten, genauso wenig wie moralische Reinheit an der EU-Außengrenze. Deswegen stört mich das nicht. Schwieriger finde ich den Diskurs, der dahintersteckt. Man versucht, bestimmte Positionen aus der öffentlichen Debatte fern zu halten, indem man ihre Träger diffamiert, diskreditiert, ausgrenzt oder, sagen wir es ruhig so deutlich, fertig zu machen versucht. Das ist mir in Frankfurt passiert, das war die Absicht dieser Provokateure. Ein solches repressives Meinungsklima breitet sich leider an unseren Universitäten immer mehr aus. Ich kenne Professoren, die mir hinter vorgehaltener Hand sagen, dass sie, obwohl bestimmte Dinge, die sie selbst gar nicht teilen, aus Angst vor Konsequenzen gar nicht ansprechen. Das finde ich äußerst bedenklich. Meine persönliche Erfahrung ist da gar nicht entscheidend. Was mich besorgt, ist die Veränderung der Debattenkultur im Land.

Sie selber haben des Öfteren schon provoziert, gelten als jemand, der klare Kante zeigt, der zuspitzt. Wie sieht sich Boris Palmer selbst? Als Provokateur oder eher als ausgleichender Kommunalpolitiker?
Ich sehe mich da als typischen Schwaben, als eigensinnig und widerständig. Ich lass mir nix sagen. Es ist keine gute Eigenschaft, einfach »die Gosch zu halten«, wie man hier sagt, im Gegenteil: Hier macht man das Maul auf. Das beschreibt mich besser als diese politisch motivierten Attribute, die ja meistens suggerieren wollen, dass mir die Anliegen, die ich anspreche, gar nicht ernst seien, sondern es mir um irgendwas anderes ginge. Das kommt aus der Vorstellung, dass das gar nicht sein kann, was ich da sage, dass mir das gar nicht ernst wäre. Und da sind wir wieder bei einem dieser großen Missverständnisse, die auch den Diskurs in unserer Gesellschaft schwierig machen: Wir nehmen die andere Seite gar nicht mehr ernst, uns interessieren die Argumente gar nicht mehr. Wir führen von vornherein irgendwelche Scheingefechte. In so einer Situation hat der politische Diskurs keinen Mehrwert.

Ihr 2004 verstorbener Vater Helmut war als »Remstalrebell« vielen Menschen im Ländle ein Begriff. Wie sehr ähneln Sie ihm? Und wo unterscheiden Sie sich vielleicht von ihm?
Die Impulsivität und die Leidenschaft für die Politik habe ich ganz sicher von meinem Vater. Aber ich habe nicht seine Biografie, seine Leidensgeschichte im Dritten Reich zum Beispiel. Ich wurde nicht Moses genannt in der Schule, musste nicht ins Gefängnis, weil ich mich mit Nazis in der Justiz anlegte, wie mein Vater das tat. Der wesentliche Unterschied ist, dass ich nicht die gleichen Verletzungen ertragen musste, die mein Vater mit sich trug. Das hat es mir erlaubt, erfolgreich ein politisches Amt anzustreben. Ich bin jetzt zum dritten Mal in Tübingen als Oberbürgermeister gewählt worden. Mein Vater hat in 250 Kommunen kandidiert, aber immer vergeblich.

Sie waren mehr als 25 Jahre Mitglied der Grünen und sind letztes Jahr im Streit gegangen. Sogar langjährige Freunde wie Rezzo Schlauch haben sich von Ihnen losgesagt. Wie sehr schmerzt das?
Mit Rezzo habe ich mich drei Tage später schon ausgesprochen. Und wenn ich selbst impulsiv bin, muss ich auch ihm zugestehen, dass er mal auf die Pauke haut. Aber das ist längst bereinigt. Was die Trennung von der Partei angeht: Ich würde gar nicht sagen, dass das im Streit geschah. Ich sehe es eher als einen schleichenden Prozess der Entfremdung. Wenn man irgendwann feststellt, es passt nicht mehr zusammen, ist es zwar hart, sich zu trennen. Aber es muss halt sein. Und der Punkt war erreicht. Ich wünsche meiner Ex-Partei alles Gute, weil ich ein überzeugter Ökologe bin. Und ich sehe keine andere Partei, die dieses Anliegen ernst nimmt. Aber ich habe mich weg entwickelt von den idealistischen Positionen der Grünen zur Migration, mit denen sich die Partei immer stärker identifiziert. Das ist gewissermaßen zum identitätsstiftenden Merkmal geworden, und das war früher nicht so. Platt gesagt: Früher war die Frage: Bist du für die Umwelt? Heute ist die Frage: Bist du für Flüchtlinge? Nur dann bist du ein richtiger Grüner.

Welche Partei wäre denn die richtige für Sie?
Eine solche Partei gibt es in Deutschland aktuell nicht. Da ist eine Lücke. Ich hätte gerne eine liberal-grüne oder ur-grüne Partei, ohne die neumodischen Erscheinungen von Gendertheorie oder der Forderung nach offenen Grenzen.

Sehen Sie sich möglicherweise bald an der Seite von Sahra Wagenknecht in deren neuer Partei? Sie haben sich ja kürzlich mit ihr getroffen …
Sahra Wagenknecht und ich passen nicht so gut zusammen. Wir haben zwar die große Überschneidung bei den Themen Genderpolitik und Migration, aber wenn es um Ökologie, um Russland, um Marktwirtschaft, um die Coronapolitik geht, also eigentlich um fast alle anderen Themen, dann vertreten wir gegensätzliche Auffassungen. Ich würde mir mit einem Eintritt in solch eine Partei viel mehr gegensätzliche Positionen einkaufen, als ich sie in meiner alten Partei, den Grünen, hatte. Warum sollte ich das tun?

Geben Sie Wagenknechts Partei auf Dauer eine Chance zu reüssieren?
Die Umfragen sagen ganz klar: ja. Ich glaube, dass sie tatsächlich der AfD die Hälfte ihrer Wähler wegnehmen könnte. Und das würde ich für einen Fortschritt halten. Man kann Sahra Wagenknecht viel vorwerfen, aber sie ist keine Rassistin.

Sie ist aber eine Populistin. Bräuchte das Land nicht ein bisschen weniger Populismus, weniger Wut, weniger Bierzeltreden und ein bisschen mehr Sachlichkeit?
Dass der öffentliche Diskurs es vertragen könnte, sich mehr mit Tatsachen zu beschäftigen und weniger mit den eigenen Wunschvorstellungen, würde ich sofort unterschreiben. Ich habe ja ein ganzes Buch geschrieben über das Thema (Anmerkung d. Red.: Boris Palmer: Erst die Fakten, dann die Moral! - Siedler-Verlag 2019). Den Populismusvorwurf finde ich aber inflationär eingesetzt, ähnlich wie den Rassismusvorwurf. Populismus wird gern benutzt, um eine bestimmte politische Auffassung zu bezeichnen, was aber nicht richtig ist. Die Prämisse des Populismus ist ja: Ich verspreche den Menschen etwas, das ich niemals halten kann. Und in der rechtspopulistischen, demokratiefeindlichen Version halten sich einige für »das Volk« und alle anderen sind dann »Volksfeinde«. Beides kann man Sahra Wagenknecht nicht attestieren, bloß, weil sie Dinge sagt, die vielen Leuten gefallen. Das allein ist noch kein Populismus.

Aber kann man ihr nicht ihre reflexartige Sympathie für Russland, ihren Antiamerikanismus vorwerfen? Und zu Israel äußert sie sich fast nie.
Das sollte man ihr auch vorwerfen! Es geht nicht, dass wir Israel im Regen stehen lassen. Es ist falsch, das transatlantische Bündnis in Frage zu stellen. Und es verharmlost Putin, wenn man ständig Verständnis für Russland aufbringt und dort Gas einkauft. Aber man sollte das nicht Populismus nennen, das ist eine inhaltliche Differenz, es sind falsche inhaltliche Ansätze.

Sie galten mal als Führungsreserve der Grünen, als möglicher Nachfolger von Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Sie sind jetzt schon seit 2007 Oberbürgermeister von Tübingen. Haben Sie noch Ambitionen für die Landes- oder Bundespolitik?
Definitiv nicht. Dafür bin wahrscheinlich gar nicht geeignet. Nach vielen Jahren in der Kommunalpolitik bin ich es gewohnt, Entscheidungen zu treffen, nah an der Realität der Leute zu arbeiten und die Früchte meiner Arbeit zu sehen. Ich muss mich nicht lange mit Parteiprogrammen aufhalten. Und wenn man das fast 17 Jahre lang gemacht hast, ist man für die Art von Parteipolitik, die bei uns vorherrscht, nach meiner Einschätzung ziemlich verdorben. Ich würde mich da nicht mehr wohlfühlen. Bitte aber nicht falsch verstehen: Ich will den Parlamentarismus nicht in Frage stellen, aber da, wo ich jetzt arbeite, bin ich einfach besser aufgehoben.

Wer sollte Winfried Kretschmann nachfolgen?
Ich habe mir vorgenommen, als Ex-Grüner keine Äußerungen mehr zu machen, die man als Grüner für gewöhnlich tut. Das Einzige, was ich sagen kann, ist - weil es eine Trivialität ist -, dass Winfried Kretschmann eine absolute Ausnahmefigur war und ist. Und dass es niemanden gibt bei den Grünen, der das in gleicher Weise machen kann wie er. Allerdings nicht nur bei den Grünen nicht. Auch bei der CDU ist weit und breit keiner so wie er.

Mit dem Tübinger Oberbürgermeister sprach Michael Thaidigsmann.

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