Interview

Holocaust-Überlebender Weintraub wird 100: »Ich habe etwas bewirkt«

Leon Weintraub, hier bei der Feier zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau Foto: picture alliance / NurPhoto

Leon Weintraub überlebte den Holocaust. Heute ist er einer der letzten Zeitzeugen. Der aus einer jüdischen Familie im polnischen Lodz stammende Weintraub überstand mehrere Konzentrationslager, darunter Auschwitz-Birkenau. Der in Stockholm lebende Mediziner spricht im Interview über Lehren aus seinen schrecklichen Erfahrungen.

Herr Weintraub, Sie werden am 1. Januar 100 Jahre alt - was bedeutet Ihnen dieser außergewöhnliche Geburtstag?
Leon Weintraub: (Lacht) Ich kann wieder mal von Null anfangen. Ich habe oft in meinem Leben alles zurückgelassen und dann wieder neu angefangen. Vom jüdischen Volk habe ich 2.000 Jahre Erfahrungen geerbt in der Fähigkeit zu überleben.

Sie haben mehrere NS-Konzentrationslager überlebt. Mit welcher inneren Haltung geht das?
Dadurch, dass es bei mir keine innere Haltung gab! Mein bewusstes Sein war fast ausgeschaltet. Da mein Körper ausgemergelt war, leuchtete mein Geist nur noch auf minimaler Flamme. Das hat mich davor bewahrt, bewusst an all dem zu leiden, was um mich herum geschah.

Haben Sie selbst Angst vor dem Tod?
Nein. Ich bin ja Arzt, Gynäkologe und Geburtshelfer. Und ich weiß: Wir kommen zur Welt, und wir verlassen die Welt. Ich bewundere den Körper und wie dieser Organismus zusammengesetzt ist.

Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?
Nein. Ich bin Rationalist. Ich glaube nicht an etwas, ich will Dinge wissen. Alle Religionen sind letztlich von Menschen geschaffene Gedanken. Und falls nach dem Tod doch etwas kommt, dann werde ich es erfahren - ich habe aber keine Eile! Ich liebe das Leben, es ist wunderbar.

Ist das, was Sie in der NS-Zeit erlebt haben, für Sie persönlich ganz gegenwärtig? Oder ist es Vergangenheit?
Es ist traurig, aber es wird immer mehr gegenwärtig.

Wodurch?
Durch die lauten, unangenehmen Aktivitäten der Rechtsradikalen. Auf andere herabzuschauen und sich herauszunehmen, über deren Leben zu entscheiden: Das führt geradewegs zur Gaskammer. Das haben diese Leute vergessen.

Die AfD - also eine zumindest in Teilen rechtsextremistische Partei - liegt in Deutschland in Umfragen derzeit schon bei 26 Prozent - und wäre damit stärkste politische Kraft. Befürchten Sie, dass in den nächsten zehn Jahren eine rechtsextreme Bundesregierung an die Macht kommt?
Ausgeschlossen! Ich bin ein unheilbarer Optimist. Wenn 26 Prozent zur AfD »Ja« sagen, dann sagen 74 Prozent »Nein«. Die Rechtsradikalen sind nur besonders laut, sie gieren nach Bedeutung. Aber es ist letztlich eine kleine Minderheit, genauso wie auch Antisemiten eine kleine, aber laute Minorität sind.

Wie blicken Sie auf die Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023, als die Hamas Israel überfallen und rund 1.200 Menschen getötet hat - und auf die Militäroffensive Israels im Gazastreifen mit mehreren Zehntausenden Toten?
Ich bin Arzt und Humanist. Mir tut es leid um jeden Menschen, der leidet. Aber man kann in diesem Konflikt nicht Proportionen gegeneinander aufrechnen angesichts der unfassbaren Grausamkeit der Hamas. Ich war mit meiner Frau Evamaria am 7. Oktober 2023 in Tel Aviv. Wir wurden am frühen Morgen durch langgezogene Sirenen geweckt. Ich wusste: Wir sind wieder im Krieg. Für mich war es auf einmal wie im September 1939...

Also ist das Vorgehen Israels gerechtfertigt?
Man muss aufpassen, dass man in diesem Konflikt die am 7. Oktober 2023 Angegriffenen nicht zu Tätern macht - das wäre absurd. Israel wehrt sich gegen seine Vernichtung, die dem Land von der Hamas ebenso wie vom Iran angedroht wird. Jetzt weiß jeder islamistische Angreifer, dass er bestraft wird, wenn er den jüdischen Staat angreift. Ob die Bestrafung zu streng ist, ist eine theoretische Diskussion. Die anderen drohen jedenfalls damit, Israel auszulöschen. Israel hat hingegen nie die Absicht gehabt, die Palästinenser auszurotten.

Sie haben Vorträge gehalten vor Schulklassen. Wissen Sie, wie viele Schüler Sie damit erreicht haben?
Tausende. Ich habe allein in Deutschland über hundert Schulen besucht, aber auch Vorträge gehalten in Gedenkstätten in Deutschland, Polen und den USA. 2026 bin ich schon bis September mit Vorträgen ausgebucht. Dass ich noch Bericht erstatten kann über diese dunkle Wolke in der Weltgeschichte - die zwölf Jahre des sogenannten 1.000-jährigen Reiches. Das ist für mich große Genugtuung und Motivation.

Was ist Ihr Lebensmotto?
Meine Grundhaltung ist der Optimismus. An Menschen zu glauben. Und: nützlich zu sein. Für mich und die anderen Holocaust-Überlebenden erwächst eine Verpflichtung daraus, dass es den Nazis nicht gelungen ist, auch uns umzubringen. Aber wir haben Freude am Leben, wir genießen das Leben - und zwar anders als Menschen, die nicht Tage, Wochen, Monate und Jahre unter einer Todesdrohung gelebt haben.

Der frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, sagte vor seinem Tod im Jahr 1999 angesichts antisemitischer Tendenzen, er habe »fast nichts bewirkt«. Denken Sie ähnlich?
Ich habe etwas bewirkt. Ich habe Spuren hinterlassen. Und ich habe auch Beweise dafür: Viele Schüler schreiben mir mehrseitige Briefe. Ich bin wirklich überzeugt: Die mich gehört haben, werden nicht die AfD wählen. Die wissen, dass krankhafter Nationalismus, der andere Menschen herabsetzt, menschenunwürdig ist.

Auf Facebook, Tiktok oder der Plattform X gibt es viele angebliche Fotos aus Konzentrationslagern, die aber nicht echt sind, sondern KI-generiert. Eine Gefahr?
KI-Fotos drohen die Erinnerungsarbeit zu verfälschen. Dagegen zeigen die vielen Gedenkstätten in Deutschland und weltweit umfangreiches, authentisches Material über die NS-Zeit. Denn kaum ein Ereignis der Weltgeschichte ist in Wort und Bild so gründlich, ausführlich und vielseitig festgehalten wie der Holocaust, dokumentiert von den Überlebenden, den Befreiern und nicht zuletzt auch von den Tätern selbst.

Dennoch: Veranstaltungen von Holocaust-Überlebenden stehen unter dem Motto »Fragt uns - wir sind die Letzten!«
Es ist natürlich ein großer Verlust für die Glaubwürdigkeit und die Überzeugungskraft, wenn wir - die letzten Augenzeugen - verschwinden. Aber wir hinterlassen nicht nur Spuren, wir hinterlassen wirklich fundamentale Fakten. Viele Fakten. Das ist kein Fake!

Gibt es auch positive Seiten für das Erinnern mit KI? Existieren digitale Avatare von Leon Weintraub?
Ja. Es wurden schon zweimal Hologramme von mir eingespielt. Man wird mir daher auch noch in 30 Jahren gegenübersitzen können und mich fragen können, wie es wirklich war.

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