Gedenkrede im Wortlaut

»Hätte ich ihn fragen sollen?«

»Ich bin stolz, dass ich meinen Söhnen das Vermächtnis ihres Großvaters habe weitergeben können«: Marcel Reif (74) Foto: REUTERS

Sehr geehrte Damen und Herren, hochverehrte Frau Szepesi, auch ich möchte mich bei Ihnen bedanken dafür, dass Sie hierhergekommen sind, dass Sie gesprochen haben zu uns – nicht um Sühne oder gar Rache einzuklagen, sondern: um zu erinnern, zu wecken, wo nötig.

Damit geben Sie diesem neuen, anderen Deutschland eine zweite Chance, es anders, besser, richtig zu machen! Dafür kann Ihnen dieses Deutschland, können Ihnen diese Deutschen nicht genug danken. Aber diese zweite Chance darf nicht – niemals und nirgends – vertan werden! Und deshalb mag ich das Wort »Mahnung« in diesem Zusammenhang nicht, es lässt mir zu viel vermeintlichen Spielraum. »Nie wieder!« ist mitnichten ein Appell – »Nie wieder!« kann nur sein, darf nur sein, »Nie wieder!« muss sein: gelebte, unverrückbare Wirklichkeit!

Manches, was ich nach dem 7. Oktober, nach dem Hamas-Massaker an Israelis, auf Deutschlands Straßen und Plätzen hören und sehen musste, hat mich entsetzt! Aber – was da zuletzt zu hören und zu sehen war – die großen Demonstrationen der Aufrechten: Das macht mir Hoffnung!

Sie, Frau Szepesi, sprechen, und mögen Sie das noch lange tun! Mein Vater hat geschwiegen, und ich will und werde jetzt nicht für ihn sprechen. Aber ich kann und darf über ihn sprechen. Und ich möchte ihm hier und heute Danke sagen für sein lebenslanges Schweigen, weil ich es zu seinen Lebzeiten versäumt habe!

Kein Wort über all das, was er erlebt, überlebt hatte.

Als sich Anfang der 50er-Jahre in Polen, wo wir lebten, wieder antisemitische Strömungen breitzumachen drohten, beschlossen meine Eltern, vor allem mein Vater: Einmal ist genug! Er hatte den Holocaust überlebt, die meisten aus seiner Familie nicht. Über den nicht tragfähigen Umweg Israel zog die Familie nach Deutschland, in das Land der Täter.

Das Land der Täter – aber hier waren Freunde, waren Verwandte, die helfen konnten. Hier fanden wir ein Dach über dem Kopf, hier fand mein Vater Arbeit, um die Familie durchzubringen. Das neue, andere Deutschland bot ihm jetzt eine zweite Chance auf: anständiges, würdevolles Leben. Und hier wuchsen meine Schwester und ich auf – eine fröhliche, sorgenfreie, liebevolle Kindheit und Jugend.

WAHRHEIT Fröhlich und sorgenfrei nicht zuletzt – das weiß ich heute –, weil mein Vater schwieg. Kein Wort über all das, was er erlebt, überlebt hatte. Er sprach nicht, und ich fragte nicht. Ich würde gern behaupten: weil es seine Entscheidung war und ich sie respektiert habe. Vielleicht, auch. Aber vor allem war es meine Angst. Angst, Unsagbares hören, Unfassbares erfassen und Unerträgliches ertragen zu müssen: Bilder des Grauens, was man meinem großen, starken Vater angetan hatte. Die Wahrheit war doch eindeutig genug. Ich hatte keine Großeltern, einen Onkel, eine Tante, eine Cousine waren geblieben, die anderen: ermordet.

Jahre nach Vaters Tod war offenbar ein Schweigegelöbnis seiner Frau, unserer Mutter, abgelaufen. Ich wollte jetzt wissen – und sie durfte sprechen. Vater war ein liebevoller, ein guter Opa. Einmal die Woche kam ich mit meinem kleinen Sohn zu Besuch. Es waren wunderbare Stunden. Nur manchmal verfiel er kurz in eine Depression, wurde für ein paar Minuten unerreichbar. Ich fand das angesichts seines kleinen Enkels unangemessen und war einmal drauf und dran, mich dazu zu versteigen, ihn dafür tadeln zu wollen. Da fuhr meine Mutter dazwischen. Sie machte so eine Handbewegung und sagte: »Du weißt ja gar nichts!«

Zum Glück habe ich reagiert auf dieses Durchparieren und meinen Mund gehalten. Weil ich zwar nicht wusste, aber offenbar sehr wohl ahnte: Da ist etwas, viel zu groß, viel zu furchtbar. Mutter erzählte, wie eine Gruppe Juden mit meinem Vater auf der Flucht einen kleinen Jungen – ungefähr so alt wie sein Enkel – bei polnischen Bauern zurückließ, um überhaupt eine Chance zu haben. Nach der Befreiung wollten sie den Jungen wieder abholen. »Es tut uns leid. Die Deutschen kamen, und da mussten wir das Kind die Klippe runterwerfen.«

»Und weißt du, manchmal, wenn du mit deinem Sohn bei uns warst, hatte er auch diesen Jungen vor Augen.«

GEGENWART Hätte ich ihn fragen sollen, fragen müssen: Warum? Wäre es richtiger gewesen, besser, leichter für ihn und für mich? Ich weiß es nicht. Aber eines weiß ich genau: Ich bin der Letzte, dem es zusteht, darüber zu urteilen! Im Nachhinein sowieso.

Die Vergangenheit habe ich erst 50 Jahre später wirklich angenommen.

Viel zu gern hatte ich als Kind und junger Mann diesen warmen, kuscheligen Mantel seines Schweigens angenommen, mich darin eingerichtet mit den Sorgen und Problemen eines Nachkriegs-Wirtschaftswunder-Sprösslings: die Latein-Note, Modell und Farbe des ersten Autos, die Fußballer-Karriere – Gegenwart nur und rosige Zukunft.

Die Vergangenheit habe ich erst 50 Jahre später wirklich angenommen in den Gesprächen mit meiner Mutter. Wobei – Gespräche? Drei Tage haben wir uns damals hingesetzt, sie hat erzählt, wir haben viel gelacht und noch mehr geweint Und sie hat am Ende bestätigt, besiegelt, was mein Vater gewollt und geschafft hatte, nämlich: Es durfte nicht sein, dass auch noch seine Kinder von den furchtbaren Schatten heimgesucht, gequält werden, die seine Kindheit und Jugend verdunkelt, zerstört hatten:

Wir sollten, wir durften nicht in jedem Postboten, Bäcker, Straßenbahnfahrer, Lehrer einen möglichen Mörder unserer Großeltern vermuten. Eine behütete, unbelastete, unbeschwerte Kindheit sollte es sein, musste es sein. Er wollte diesen verschlossenen Raum in unserem Lebenshaus auch nicht mal einen Spalt breit öffnen – auch nicht für die »guten Geister«, die da ja ebenfalls wohnten.

MUT So hatte ihn der spätere Krupp-Manager Berthold Beitz aus einem Todeszug Richtung Vernichtungslager geholt und ihm so das Leben gerettet. Ohne Beitz würde ich heute nicht hier stehen. Und vor ein paar Jahren sprach mich ein Mann hier in Berlin auf der Straße an, ob ich ein paar Minuten hätte, er wolle mir etwas über meinen Vater erzählen. Auf der Flucht durch die Wälder hatte Vater ihn, den Vierjährigen, auf den Schultern getragen und ihm so das Leben gerettet. Das alles weiß ich heute.

Und noch etwas habe ich endlich – viel zu spät! – erkannt, begriffen, und das ist, was zählt: Ich erinnere mich nicht an den Anlass und nicht an den Zeitpunkt, aber mir wurde irgendwann beinahe schlagartig klar, dass mein Vater ja doch gesprochen hatte und mir das gesagt und mitgegeben hatte, was ihm wichtig war; was er gerettet, was er als Essenz destilliert hatte aus dem Unmenschlichen der Häscher und Mörder, aus dem Übermenschlichen eines so mutigen Berthold Beitz; aus dem, was er selbst geleistet hatte mit dem kleinen Jungen, der seine eigene Menschlichkeit abgefragt hatte. All das hat er in einen kleinen Satz gepackt.

RATSCHLAG Und ich erinnere mich täglich mehr daran, wie oft er mir diesen Satz geschenkt hat – mal als Mahnung, mal als Warnung, als Ratschlag oder auch als Tadel. Drei Worte nur in dem warmen Jiddisch, das ich so vermisse: »Sej a Mensch!«, »Sei ein Mensch!«

Eine behütete, unbelastete, unbeschwerte Kindheit sollte es sein, musste es sein.

Dein Schweigen, deine Lebensfreude trotz allem, deine ungebrochene Fähigkeit, uns so viel Liebe und Fürsorge zu geben – und dieser Satz: »Sei ein Mensch!« – dafür: Danke, Papa! Und ich bin stolz, dass ich meinen Söhnen und Enkeln, die da oben sitzen, dieses Vermächtnis ihres Groß- und Urgroßvaters habe offensichtlich weitergeben können.

Und wenn Sie es mir erlauben und wenn Sie mögen – gerade heute aus diesem Anlass und gerade in diesem höchsten deutschen Hause: Dann lass ich Ihnen diesen kleinen und doch so großartigen, wundervollen Satz, den mein Vater Leon Reif gesagt hat, dann lass ich Ihnen diesen Satz hier: »Sej a Mensch!«, »Sei ein Mensch!«.

Der Autor ist Fußballkommentator und wurde 1949 als Marc Nathan Reif in Wałbrzych, Polen, geboren.

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