Die öffentliche Hinrichtung der Verräter durch die Hamas sei »sehr sozial abgelaufen«, schrieb der deutsche Reporter. Denn um ihre Familien zu schützen, seien ihre Namen nicht genannt worden, ihre Kinder würden wie die Kinder von »Märtyrern« behandelt. »Alle Menschen im Gazastreifen« seien sich einig, »dass man etwas gegen Kollaborateure tun muss«, da sie »eine Gefahr darstellen für die Sicherheit«. Die Hingerichteten seien durch die »Sicherheitsbehörden« der Hamas »ohne Ausübung von Zwang und Gewalt befragt« worden und hätten ihre Zusammenarbeit mit dem israelischen Geheimdienst zugegeben: »Alles ganz legal.«
Mit diesem Beitrag auf seiner Tumblr-Homepage katapultierte sich Martin Lejeune, der bis dahin für das »Neue Deutschland« und die »taz« aus Gaza berichtete und auch im Deutschlandfunk, in der »Stuttgarter Zeitung«, der »Frankfurter Rundschau«, dem Wiener »Standard« und der Schweizer »Wochenzeitung« vorkam, ins Abseits. Das war im August 2014. Elf Jahre später posiert das »antisemitische Hamassprachrohr«, wie Lejeune in einem anonymen Flugblatt Hamburger Studierender genannt wurde, vor einem Graffito: »Free Gaza from Hamas!«
Was ist mit ihm passiert? Nun, einiges. Etwa der 7. Oktober 2023. Aber beginnen wir am Anfang.
Studium der Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut
Martin Lejeune wird 1980 in eine typische deutsche Familie geboren. Die Eltern – er Protestant, sie Katholikin – sind Angestellte eines großen Reiseunternehmens. Ein Großvater hatte ein Bein an der Ostfront verloren, der andere als Kriminalpolizist für die Gestapo gearbeitet und ein lebenslanges Berufsverbot bekommen. Lejeune ist ein empfindsamer Junge, leidet unter den Eheproblemen der Eltern, durchläuft diverse Schulen, schafft erst mit 23 das Abitur. Dann zieht er nach Berlin und beginnt am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität ein Studium der Politikwissenschaft.
Er kennt die linke und die islamistische Szene von innen. Lejeune ist ein wichtiger Zeuge.
Das OSI ist seit 1968 fest in linker Hand. Die Rebellen von einst gestalten inzwischen als Professoren den Ausbildungsbetrieb. Lejeune studiert das Kapital, organisiert sich in der Linkspartei, protestiert gegen den »Sozialabbau« der linksgrünen Koalition von Kanzler Gerhard Schröder und den »CIA-Putsch in der Ukraine«, also die demokratische Revolution, verehrt den linken – und antisemitischen – Moderator Ken Jebsen, bürgerlich Kayvan Soufi-Siavash, der inzwischen Werbung für die AfD macht. Obwohl er keine journalistische Ausbildung hat, schreibt Lejeune viele Artikel für das »ND«, bald auch für andere linke Organe.
Im linken Milieu wird das Thema Palästina immer wichtiger. Lejeune fällt auf, dass es keine deutschen Korrespondenten in Gaza gibt; sie sitzen in Tel Aviv oder Jerusalem, und wenn sie Gaza besuchen, sind sie in besonderen Journalistenhotels untergebracht. Er wittert eine journalistische Chance. Über eine Theatertruppe in Beit Jala im Westjordanland bekommt er Kontakte zu Theaterleuten in Gaza und wird eingeladen, bei einem von ihnen zu wohnen.
Wohlwollend verschweigen, nicht aber öffentlich gutheißen
Dort bleibt Lejeune einen Monat und erlebt die israelische Operation »Protective Edge« gegen die Hamas hautnah. Einmal wird das Nachbarhaus von einer israelischen Rakete zerstört. Aus dem linken Sympathisanten für die Sache der Palästinenser wird ein Apologet für die islamistische Hamas. Was die linken deutschen Medien nicht weiter stört, bis zur Sache mit der öffentlichen Hinrichtung. So etwas darf man wohlwollend verschweigen, nicht aber öffentlich gutheißen.
Zurück in Deutschland, ist Lejeune zwar in den Medien Persona non grata, dafür aber bei Organisationen der »Palästina-Solidarität« umso gefragter. Typisch ist die Einladung zu einem »Bildvortrag« Lejeunes über das israelische »Massaker an der Zivilbevölkerung in Gaza«, organisiert von der Palästinensischen Gemeinde Hamburg, der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft und dem Deutsch-Palästinensischen Frauenverein in Kooperation mit dem Asien-Afrika-Institut (AAI) der Universität Hamburg. Proteste kritischer Studierender werden von der Instituts- und Unileitung unter Hinweis auf die akademische Freiheit abgebürstet.
Lejeune radikalisiert sich immer weiter, tritt zum Islam über, hält eine Rede auf dem antisemitischen Al-Quds-Tag in Berlin, wird von der türkischen AK-Partei des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdŏgan umworben und darf für dessen Sprachrohr »Sabah« schreiben. Als der Türkei-Korrespondent der »Welt«, Deniz Yücel, 2016 unter fadenscheinigen Vorwänden verhaftet wird, übernimmt Lejeune das Narrativ der AK-Partei und bezeichnet Yücel als »Agent-Terrorist«. Das entsprechende Video Lejeunes hatte auf seinen YouTube- und Facebook-Seiten an die 500.000 Aufrufe. »Es war eine wilde Zeit«, sagt er rückblickend. »Ich nahm ihn nicht ernst, hielt ihn für völlig durchgeknallt«, sagt einer seiner Gegenspieler aus dieser Zeit.
Auf seinem Twitter-Kanal erreicht er 27.000 Follower
Vor den Wahlen in der Türkei im Juni 2018 postet Lejeune auf seinem Twitter-Kanal, mit dem er 27.000 Follower erreicht, einen türkischen Text, der übersetzt lautet: »Vor 95 Jahren schaffte Atatürk mit den Worten ›Meine Herren, morgen werden wir die Republik ausrufen‹ den osmanischen Staat wie das Kalifat ab. Am 24. Juni wird die kemalistische Republik abgeschafft, und zur gegebenen Zeit wird in der Türkei mit Gottes Hilfe das Kalifat wiederauferstehen. Gott schütze die Muslime.«
Daraufhin erklärt der »Deutschlandkoordinator« der »Sabah«: »Lejeune war für kurze Zeit als freier Mitarbeiter der Sabah tätig. Aufgrund seines unausgeglichenen Verhaltens und seiner Erklärungen wurde seine Mitarbeit beendet.« Die Website »Ruhrbarone« kommentierte: »Ein Kalifat zu gründen und ganz offiziell die Republik abzuschaffen, ging selbst der Erdŏgan-nahen Zeitung zu weit.«
Es ist der Höhe- und Endpunkt einer steilen, kurzen und traurigen Karriere. Lejeune erlebt, wie er sagt, einen »Burn-out«, zieht sich in den Kreis der Familie zurück. 2021 vermittelt ihm ein Journalistenfreund den Kontakt zum Aussteigerprogramm »Exit«. Zwei Jahre lang trifft sich Lejeune mit zwei Mitarbeitern des Programms, einem ehemaligen Beamten des Berliner Landeskriminalamts und einem Pädagogen. »Man muss die Seele und den Verstand ansprechen«, sagt Lejeune: »Ich bin froh, nicht Terrorist geworden zu sein.« Der Schritt von radikalen Worten zu radikalen Taten ist, das weiß er, klein.
Zwei Jahre lang nahm Martin Lejeune am Aussteigerprogramm »Exit« teil.
Man könnte böse meinen, Lejeune leide heute unter dem »Konvertiten-Syndrom«. Der frühere Kalifats-Befürworter nimmt an Demonstrationen für den inhaftierten Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamŏglu teil und interviewt für seinen YouTube-Kanal – immerhin hat er 70.000 Abonnenten – eine türkischstämmige Transfrau. Seit dem 7. Oktober ist er »auf allen Demos« für Israel gewesen und begleitet mit der Kamera auch die FDP-Politikerin Karoline Preisler, die auf »propalästinensischen« Demonstrationen und Aktionen auf die Verbrechen der Hamas aufmerksam macht.
Netzwerk der deutschen Hamas-Freunde
Im Netzwerk der deutschen Hamas-Freunde, das von bürgerlichen BDS-Unterstützern über Hardcore-Islamisten bis zu nach außen gemäßigten Anhängern der Muslimbrüder reicht, gilt Lejeune als »Verräter«, er wird auf Demonstrationen körperlich angegriffen und zu Hause durch anonyme Telefonanrufe bedroht. Er selbst ist sich der Gefahr bewusst, von einer extremen politischen Position in die scheinbar gegenteilige zu geraten: »Aber ich bin kein radikaler Zionist, bloß weil ich verlange, dass man Israels Position wahrnimmt. Ich bin kein Extremist, wenn ich auf die Gefahr der BDS-Bewegung hinweise, die sich nie von der Gewalt der Extremisten distanziert hat.«
Dieser Artikel entstand im Verlauf mehrerer Gespräche mit Martin Lejeune. Der Autor ist selbst Renegat, war bis 1976 Mitglied einer K-Gruppe, die mit der palästinensischen Terrorgruppe PFLP sympathisierte. Nach seinem Austritt verschrieb er sich zehn Jahre politischer Abstinenz, auch aus Misstrauen gegen sein eigenes Urteilsvermögen. Sollte man das auch Lejeune raten? Die Zeiten sind schwieriger, die Freunde Israels dünn gesät. Lejeune ist als Zeuge wichtig. Er kennt die linke und islamistische Szene von innen. Er hat für seine Überzeugungen damals einiges riskiert und riskiert heute auch einiges. Das spricht für ihn.