Interview

»Es wird ungemütlich«

»Kraft, für Menschenrechte einzutreten, habe ich erst gehabt, nachdem ich meine Identität entdeckt hatte«: Natan Sharansky Foto: getty

Herr Sharansky, Israel hat es derzeit mit einer anhaltenden Welle palästinensischen Terrors zu tun. Ist dies schon eine Intifada?
Die Lage ist sehr unangenehm. Aber hinter den sogenannten Intifadas und auch hinter den letzten Kriegen standen jeweils starke Organisationen: Jassir Arafat in Tunis und internationale Terrororganisationen hinter der ersten Intifada; hinter der zweiten stand auch Arafat, der zwischenzeitlich mit viel internationalem Geld zu einem mächtigen und korrupten Diktator geworden war. Und für die letzten Kriege waren die Hamas und die Hisbollah verantwortlich.

Wie ist es jetzt?

Deutlich anders. Der militärische Arm der Hamas ist, so scheint es derzeit zumindest, zerstört, die Hisbollah ist mit anderen Dingen beschäftigt, und die palästinensische Autonomiebehörde ist sehr schwach. Hinter der derzeitigen Terrorwelle stehen keine starken Organisationen. Das sieht man auch an den Waffen, die zumeist benutzt werden: Messer oder Ähnliches. Einerseits sehen wir uns also keinem organisierten Feind gegenüber, andererseits gibt es eine große Menge individueller Energie und Entschlossenheit zum Kampf. Wir stehen derzeit nicht vor einem militärischen Problem, die Täter werden schnell unschädlich gemacht oder gefasst.

Dennoch ist es eine bedrohliche Situation. Hat das für die Jewish Agency Auswirkungen?
Bezüglich der Alija nicht. Sie ist übrigens in den vergangenen zwei Jahren stark angestiegen. Weder aus der Ukraine noch aus Russland oder Frankreich gibt es Absagen derjenigen, die eine Alija geplant haben, und es gibt sie auch nicht von denen, die Israel besuchen wollen. Eigentlich heißt es doch immer: Entweder haben wir Frieden und eine gute Wirtschaftslage, dann haben wir auch Alija. Oder wir haben eine instabile Sicherheitslage, keine so gute Wirtschaftslage, dann auch keine Alija. Das stimmt aber nicht. Derzeit erleben wir keine Alija der Flucht, sondern eine der Wahl. Die Menschen kommen aus Frankreich nach Israel, obwohl sie auch nach Kanada, Australien oder in die USA gehen könnten. Aber ihre erste Wahl ist Israel.

Warum?
Weil das jüdische Leben hier eine größere Bedeutung hat. Es zeichnet sich durch mehr Freiheit und mehr Optimismus aus.

Trotz der aktuellen Probleme?

Auf den ersten Blick leben wir in einer verzweifelten Situation. In der Tat, sie ist sehr unangenehm. Aber das Leben in Israel ist dennoch voller Energie, Hoffnung und Optimismus. Alle Umfragen zeigen, dass die Israelis der Meinung sind, dass die Zukunft besser wird als die Gegenwart. In den USA hingegen sagen die Menschen mehrheitlich, die Gegenwart sei besser als die Zukunft.

Was muss getan werden, um die Gegenwart in Israel wieder sicherer zu machen?
Wir müssen entschieden gegen die Terroristen vorgehen – und auch gegen die Ideologen, die sie zum Hass anstiften. Damit meine ich auch Vertreter der Islamischen Bewegung und ebenfalls einige Mitglieder der Knesset. Ich glaube allerdings nicht, dass Frieden von oben angeordnet werden kann. Er muss vielmehr von unten kommen, aus der Zivilgesellschaft. Da kann mehr getan werden. Es gibt derzeit keine wirkliche palästinensische Führung, und wir müssen mit denen Kontakt suchen, die eine Zivilgesellschaft stärken wollen.

Perspektivwechsel: In Europa ist man derzeit mit der Flüchtlingskrise beschäftigt. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Ich denke, Europas Problem ist im Moment nicht, dass so viele Menschen vor dem syrischen Bürgerkrieg fliehen. Sicherlich ist das ein Drama, eine Tragödie, aber auch, wenn es eine Million Menschen ist, die zu den rund 500 Millionen Menschen in der Europäischen Union kommen, die doch eine starke Tradition freiheitlichen Lebens hat, ist das zu verkraften. Israel zum Beispiel hat innerhalb von fünf Jahren einen 20-prozentigen Bevölkerungszuwachs bewältigt.

Was ist dann Europas Problem?
Europa hat sich dazu entschlossen, für Frieden seine Identität aufzugeben. Das Problem ist also weniger, dass derzeit viele Menschen kommen, die die europäischen Werte nicht teilen. Vielmehr ist es problematisch, dass Europa nun schon seit zwei Generationen nicht von seinen Millionen Neubürgern fordert, dass sie die Normen der Demokratie respektieren, wenn sie anerkannt werden wollen. Es kommt einem ja fast vor, als verursache es Schuldgefühle, dies zu verlangen. Da heißt es dann, alle Zivilisationen seien gleich, wir dürften von Zuwanderern nicht verlangen, unsere Werte anzuerkennen. Jetzt haben wir auf der einen Seite eine kleine Gruppe, die eine starke Identität hat, sich aber nicht der Demokratie verpflichtet fühlt. Und auf der anderen Seite gibt es die Mehrheit, die diese Verpflichtung hat, der aber die innere Stärke fehlt, für diese Werte einzutreten. Daher ist man hilflos. Insofern ist Europa in Gefahr.

Viele sprechen von der Gefahr, dass mit den Flüchtlingen Antisemitismus importiert wird.

Es ist ja nicht nur der importierte Antisemitismus! Es geht auch um solche Fragen wie Frauenrechte, Ehrenmorde und vieles mehr. Bislang hat man das so hingenommen und gesagt, dass die Zuwanderer nach ihren Regeln in Europa leben können. Insofern ist es keine große Überraschung, dass Europa immer mehr zu einem unangenehmen Ort für Juden geworden ist. Denn Juden sind nicht nur mit dem Antisemitismus des radikalen Islam konfrontiert, sondern auch mit dem traditionellen Judenhass rechtsgerichteter Parteien in Ungarn, Griechenland oder anderswo. Und mit einem liberalen Europa, das extrem antiisraelisch geworden ist. Juden, die als Juden überleben wollen, brauchen eine enge Verbindung mit Israel. Und für die, die diesen Hass auf Israel und auf Juden spüren, wird es sehr ungemütlich.

Was heißt das für die aktuelle Situation?
Ich bin nicht besorgt angesichts eines steigenden muslimischen Bevölkerungsanteils. Was ich mit Sorge betrachte, ist der wachsende Anteil einer Bevölkerungsgruppe, die sich weigert, die Werte der freien Welt anzuerkennen. Die freie Welt muss entscheiden, ob sie das so hinnehmen will – oder nicht. Das gilt auch für die Flüchtlinge. Humanitäre Hilfe ist das eine. Etwas anderes ist, wenn man diese Menschen in Europa als neue Bürger willkommen heißt und sie in seinem Haus aufnehmen will, ohne von ihnen zu verlangen, die Regeln zu akzeptieren. Das geschieht derzeit. Auch in Deutschland muss man darüber nachdenken, wie die eigenen Werte zu verteidigen sind. Es ist höchste Zeit, das zu tun. Es ist Zeit zu handeln.

Israel und die Jewish Agency haben reichlich Erfahrung mit der Integration von Bevölkerungsgruppen. Kann Deutschland etwas von Israel lernen?
Wir sind da zweifellos sehr erfolgreich. Aber unsere Grundlage ist, dass diejenigen, die kommen, Teil des Narrativs werden wollen. Ich kann das aus meiner Erfahrung bezeugen: Die Kraft, für Menschenrechte in der Sowjetunion einzutreten und viele verschiedene Gruppen und Menschen dort zu verteidigen, habe ich erst gehabt, nachdem ich meine Identität entdeckt hatte und Teil dieses jüdisch-israelischen Narrativs werden wollte. Menschen, die zu uns nach Israel kommen, wollen Teil dieses Narrativs werden. Deshalb hat der Staat viele Möglichkeiten, ihnen zu helfen und diese Verbindung zu stärken. Wenn aber der »Klebstoff«, wie man es bezeichnen könnte, fehlt, kann Integration nicht erfolgreich sein. Dieser Klebstoff kann in Europa nur der Wert der Freiheit sein. Wenn man Menschen integrieren will, die diese Werte weder teilen noch teilen wollen, wird es nicht gelingen. Wenn sie Teil der Geschichte, der Kultur und der politischen Tradition sein wollen, wenn sie diese tiefe Verbindung mit der Gesellschaft haben wollen, kann es gelingen. Wenn nicht, wird es keine Integration geben. Dann wird man nicht in Frieden miteinander leben können.

Mit dem Vorsitzenden der Jewish Agency und früheren sowjetischen Dissidenten sprach Detlef David Kauschke.

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