Heidelberg

Ein Zeichen von Anerkennung

Alles ist vom Warten geprägt: Es ist Dienstagnachmittag, in der Heinrich-Heine-Cafeteria im Untergeschoss der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg stehen Grüppchen von Studenten. Geduldig, neugierig, ein bisschen nervös. Sie warten auf Joachim Gauck, den Bundespräsidenten. Während sich die Studierenden in Geduld üben, ist Joachim Gauck in der Hochschule unterwegs, er macht einen Rundgang mit Hochschulvertretern, abgeschirmt von der Öffentlichkeit.

Es ist seine zweite Etappe an diesem Tag. Zuvor, am späten Vormittag, hat sein Heidelberg-Besuch mit der Teilnahme an einem Festakt der Martin-Buber-Gesellschaft an der Alten Universität begonnen. Vertreter aus Politik und Wissenschaft würdigen den vor 50 Jahren verstorbenen jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber (1878–1965).

begegnung Dort erzählt Gauck von seiner eigenen Begegnung mit Martin Buber, dem jüdischen Philosophen, der 1878 in Wien geboren wurde, in Lemberg aufwuchs, an der Frankfurter Universität lehrte und 1938 aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Jerusalem floh, wo er 1965 starb.

In seinem Grußwort beschreibt Gauck, wie er einst als protestantischer Theologiestudent in Rostock über die deutsche Übersetzung des Tanach von Martin Buber und seinem Kollegen Franz Rosenzweig gestaunte hatte.

Dadurch, sagt Gauck, habe er die Botschaft des Alten Testaments noch einmal »neu entdeckt«, obwohl er bis dahin gedacht habe, dieser Text hätte ihm schon alles gesagt. »Die Kraft des Hebräischen, die Bildhaftigkeit und die grammatische Fremdheit jener Sprache, in der zum ersten Mal die Lehre vom einen Gott Ausdruck fand, die hat er auf eine unerhörte Weise ins Deutsche gebracht«, würdigte das Staatsoberhaupt den Religionsphilosophen.

botschaft Ganz besonders schätze er auch die zentrale philosophische Botschaft von Martin Buber: Dessen Sicht, dass das menschliche Leben vor allem aus der »Begegnung zwischen einem Ich und einem Du« besteht, dem Dialog. Daraus folge »ein schlechthin antitotalitäres und antiideologisches Denken«, das Widerstand leiste, wenn »statt des Einzelnen ausschließlich die Gemeinschaft oder die Religion« zähle. Gesellschaften, die menschlich sein wollten, müssten die Begegnung freier Individuen ermöglichen, betonte der Bundespräsident.

Bubers Werk zeichne sich zudem durch »die gelebte Tradition des Judentums, gerade mit dem östlichen, dem chassidischen Erbe« aus, unterstrich Gauck. Das Judentum mit zwei seiner wichtigsten Wurzeln, der Bibel und der chassidischen Tradition, sei Bubers Lebensthema gewesen, sagte der Bundespräsident. Buber habe gezeigt, zu welch zutiefst humaner Haltung religiöser Glaube befähigen und ermutigen könne. »Wir können alle – und gerade in Deutschland – noch immer von Martin Buber lernen. Sein Denken kann uns auch heute Orientierung geben«, betonte Gauck.

impuls Martin Bubers Gedankenwelt sei für Gauck »ein Impuls für sein eigenes Leben« – das beweise Gaucks Rede, sagt später Johannes Heil, Rektor der Hochschule für Jüdische Studien. Er kennt Gauck bereits aus der Zeit, als er noch nicht Bundespräsident war. 2011 war er schon einmal zu Gast an der Hochschule: »Und er hat versprochen, dass er wiederkommt – das macht er nun.« Gaucks Besuch ist für Heil ein klares Signal. Der Bundespräsident zeige damit, dass das Judentum zu Deutschland gehört.

Als Joachim Gauck von der Heidelberger Martin-Buber-Gesellschaft zur Gedenkveranstaltung zum 50. Todestag des jüdischen Philosophen Martin Buber an die Alte Universität eingeladen wurde, hatte er beschlossen, die Heidelberg-Reise zu nutzen, um auch die Hochschule für Jüdische Studien zu besuchen. Auf jeden Fall wollte er dort mit Studierenden ins Gespräch kommen. Die Einladung ging an alle, doch nur die ersten 35, die sich angemeldet hatten, wurden zu der Veranstaltung zugelassen.

Als der Bundespräsident an der Hochschule ankommt, wird er dort unter anderem von Heidelbergs Oberbürgermeister Eckart Würzner empfangen. Gauck trägt sich ins Goldene Buch der Stadt ein, zum zweiten Mal in seinem Leben.

erweiterung »Aller guten Dinge sind drei«, scherzt Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden. Er betont, dass Gaucks Besuch »eine große Ehre und Freude« ist. Die Arbeit und Leistung der Hochschule und ihrer Mitarbeiter werde dadurch gewürdigt. Das sei »ein wichtiges Signal nach außen« und zeige den Stellenwert der Hochschule in Deutschland. Schuster sagte auch, dass es derzeit Überlegungen gibt, das Angebot der HfJS um weitere Studiengänge zu erweitern.

Als Signal empfindet auch Sabrina Worch die Gauck-Visite. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für jüdische Religionslehre sagt: »Dieser Besuch ist eine unheimlich große Ehre für uns alle, für die Mitarbeiter und die Institution. Es ist ein Zeichen von Anerkennung.«

Ist das immer noch nötig, fragt da eine Journalistin, brauchen jüdische Einrichtungen wirklich noch eine Bestätigung dafür, dass sie im heutigen Deutschland erwünscht sind? Sabrina Worch zögert, dann sagt sie, dass nach wie vor nur wenige Menschen Kontakt zu Juden haben, dass die allermeisten weder die Lebendigkeit des Judentums noch seine Geschichte kennen. Es gebe aber auch Gegenbeispiele, gerade an der Hochschule.

Jonas Leipziger (26) gehört dazu. Er ist inzwischen Doktorand, hat Jüdische Studien und Evangelische Theologie studiert, weil er als Protestant beides kennenlernen wollte, seine eigene Religion und das Judentum. Jetzt hat er den Besuch des Bundespräsidenten mit vorbereitet, der seinem Eindruck nach unter anderem ein Zeichen gegen die antisemitischen Vorfälle in der vergangenen Zeit setzt: »Das geht uns alle an, nicht nur die jüdische Gemeinschaft.«

Irgendwann hat das Warten in der Cafeteria ein Ende. Der Bundespräsident kommt herein und nickt freundlich in die Runde: »Hallo, einen schönen guten Tag allerseits.« Dann betont Gauck, dass sein Besuch zeigen solle, dass er die Hochschule wahrnimmt. Und dass er es begrüßt, dass sich Bund, Länder und private Stifter zusammengetan haben, um sie zu schaffen und zu erhalten: »Ich beglückwünsche Sie zu Ihren Erfolgen!« Die Entwicklung des Judentums und der jüdischen Gemeinden in Deutschland bezeichnet Gauck als »gnadenhaftes Geschenk«. Sie sei angesichts der Geschichte keineswegs selbstverständlich und beweise, dass sich nun langsam wiederherstelle, was auf so schmerzhafte Weise verloren gegangen sei.

motivation Joachim Gauck will wissen, was die überwiegend jungen Menschen antreibt, die hier studieren. Darum mischt er sich zum Abschluss unter die Studierenden und geht von Tisch zu Tisch. Meistens erzählen ihm seine Gesprächspartner nur, was sie studieren, manchmal entwickeln sich kurz weitere Ausführungen. Mit einer Studentin unterhält sich Gauck über den Sinn von Religionen und ihren Institutionen. Die können hilfreich sein, findet er, weil Menschen Gemeinschaften bräuchten. An jedem Tisch gibt es ein Erinnerungsfoto: Gauck stellt sich zwischen die Studierenden, die freuen sich und fotografieren unermüdlich.

Doch worüber spricht man mit einem Bundespräsidenten? Mark Krasnov (26) würde ihm am liebsten eine Frage stellen: »Was kann man tun, damit ich als junger jüdischer Mensch in Deutschland ohne Angst mit Kippa auf die Straße gehen kann?« Zurzeit nimmt er, wenn er allein unterwegs ist, seine Kippa lieber ab. Pegida-Demonstrationen und andere antisemitische und fremdenfeindliche Tendenzen der vergangenen Monate haben ihre Spuren hinterlassen. An der Hochschule für Jüdische Studien hat das immer wieder für Diskussionen gesorgt.

Krasnov ist angehender Lehrer, er hat jüdische Religion studiert und zusätzlich an der Heidelberger Ruprecht-Karls-Universität, die mit der Hochschule für Jüdische Studien kooperiert, noch Spanisch und Latein. Neben ihm steht Johanna Pfuhl (24). Sie studiert die Geschichte jüdischer Kulturen.

Zwei Drittel der 160 Studierenden an der Hochschule sind Nichtjuden. Als Mark Krasnov sein Studium begann, fiel ihm auf, dass etliche von ihnen vorher an einem Friedensdienst der Aktion Sühnezeichen teilgenommen hatten, dabei in Kontakt mit dem Judentum gekommen waren und danach mehr wissen wollten.

Eigentlich mögen er und Johanna Pfuhl die Frage nach der eigenen Religion nicht. In der Wissenschaft, sagt Johanna Pfuhl, spiele sie keine Rolle. An der Hochschule gehe es ausschließlich um wissenschaftliche Auseinandersetzung, unabhängig vom eigenen Hintergrund. Die Frage nach Religionszugehörigkeiten schaffe da nur eine unnötige Kluft, sagt eine andere Studentin. Im Gegensatz dazu sucht sie eher nach dem, was verbindet. Auch bei dem, was an Bedrohlichem von außen kommt und längst nicht nur Juden betrifft: Sie würde den Bundespräsidenten darum gern fragen, ob er Zusammenhänge sieht zwischen Antisemitismus und Rassismus.

Als Joachim Gauck am Tisch von Mark Krasnov steht, gießt er dem Bundespräsidenten ein Glas Wasser ein, während seine Nachbarn dem Besucher von ihren Studienfächern und ihren Zukunftsplänen erzählen. Mark Krasnov kommt an diesem Nachmittag zwar nicht dazu, seine Frage zu stellen. Doch das findet er nicht schlimm: »Es war zu erwarten, dass es nicht klappen würde.«

Immerhin hat auch er nun ein Foto, auf dem er neben dem Bundespräsidenten steht. Als Gauck sich verabschiedet, winkt er allen zum Abschied zu und ruft: »Alles Gute!«

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