Dokumentation

»Die Verbrechen erfüllen mich mit tiefer Scham«

»Als deutscher Bundespräsident stehe ich heute vor Ihnen und verneige mich vor den mutigen Kämpfern im Warschauer Ghetto«: Frank-Walter Steinmeier Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

»ZEIT GEZUNT CHAVEYRIM UN FREIND, ZEI GEZUNT YIDDISH FOLK, DERLOZT NISHT MER ZU AZELCHE CHURBOYNES.«
[»Lebt wohl, Freunde. Lebe wohl, jüdisches Volk. Lasst nie wieder eine solche Katastrophe zu.«]

Testament Es ist schwer, heute hier, wo einst das Warschauer Ghetto war, zu Ihnen zu sprechen. Und deshalb möchte ich nicht selbst beginnen, sondern eine der Heldinnen des Ghettos sprechen lassen, in der Sprache, die so viele Jüdinnen und Juden hier in Warschau, in Polen, in Europa gesprochen haben. In der Sprache, die Deutsche auslöschen wollten. Die Malerin Gela Seksztajn hat uns dieses erschütternde Testament hinterlassen, ehe sie und ihre kleine Tochter Margalit nach Treblinka deportiert wurden.

Es ist so notwendig und doch so schwer, als Deutscher und als deutscher Bundespräsident hierher zu kommen. Die entsetzlichen Verbrechen, die Deutsche hier verübt haben, erfüllen mich mit tiefer Scham. Aber es erfüllt mich gleichzeitig mit Dankbarkeit und Demut, dass ich an diesem Gedenken teilnehmen kann, als erstes deutsches Staatsoberhaupt überhaupt.

»Erschüttert liest man von dem Grauen, das die Menschen hinter den hohen Mauern des Ghettos durchlitten. Es ist ein Bericht aus der Hölle.«

Frank-Walter Steinmeier

Verehrter Staatspräsident Duda, ich danke Ihnen für die Einladung. Heute hier gemeinsam mit Ihnen und Ihren Landsleuten, gemeinsam mit Ihnen, verehrter Staatspräsident Herzog, gemeinsam mit Ihnen, verehrter Marian Turski, verehrte Krystyna Budnicka, verehrte Elżbieta Ficowska, zu gedenken, bedeutet mir unendlich viel.

Tiefe Trauer Als deutscher Bundespräsident stehe ich heute vor Ihnen und verneige mich vor den mutigen Kämpfern im Warschauer Ghetto. Ich verneige mich in tiefer Trauer vor den Toten.

»Mit eisernem Besen fegen die ersten kalten Tage jene fort, die schon jetzt auf der Straße leben, die all ihre Kleidung verkauft haben und schwach wie die Herbstfliegen sind. Vergebens die unglaubliche Lebenskraft der Warschauer Juden. Sie schreien und sie wehren sich bis zum Schluss, bis zur letzten Stunde und Minute, aber diese Stunde und Minute wird kommen.«

Diese Zeilen schrieb Rachela Auerbach, die selbst im Ghetto leben musste, in ihr Tagebuch. Wie viel Schmerz liegt in diesen wenigen Sätzen. Wie viel Trauer. Aber auch: wie viel Gefasstheit. Rachela Auerbach wusste, dass die Juden Warschaus verloren waren. Ihren Aufzeichnungen und denen der anderen Mitstreiter des Ringelblum-Archivs verdanken wir das Wissen, welche Gräueltaten die Nationalsozialisten hier verübt haben – und die Erinnerung an eine Welt, die sie ausgelöscht haben.

Bericht aus der Hölle »Eine Stadt wird zerstört und ein Volk wird zerstört«, schrieb Rachela Auerbach. Erschüttert liest man von dem Grauen, das die Menschen hinter den hohen Mauern des Ghettos durchlitten. Es ist ein Bericht aus der Hölle. Erschüttert liest man aber auch von der Kraft, der Menschlichkeit, dem Mut; all das bewahrten sich viele. Sogar Liebe gab es im Ghetto, wie der große Marek Edelman so berührend erzählt hat.

»Wir Deutsche wissen um unsere Verantwortung und wir wissen um den Auftrag, den die Überlebenden und die Toten uns hinterlassen haben. Wir nehmen ihn an.«

Frank-Walter Steinmeier

Die Leute um Mordechai Anielewicz, Marek Edelman, Jitzhak Zuckerman und viele andere, die Heldinnen und Helden des Warschauer Ghettos haben unvorstellbaren Mut gezeigt in dunkelster Nacht. Sie wollten ein Zeichen setzen: ihre Würde zu bewahren angesichts des sicheren Todes. Sie erhoben sich gegen brutales Unrecht, gegen Willkür, Terror, das Morden. Ihr Mut strahlte über Warschau hinaus und machte anderen Mut. Ihr Mut strahlt auch hinein in unsere Gegenwart.

Rachela Auerbach und Marek Edelman gehörten zu den wenigen Überlebenden des Ghettos. Zeugnis abzulegen, das sahen sie ihr Leben lang als ihre Aufgabe an. Rachela Auerbach in Israel, Marek Edelman hier in Polen. »Wir, die überlebt haben, hinterlassen Euch das, damit die Erinnerung […] nicht verloren geht.« Das ist ihr Vermächtnis an uns: die Erinnerung zu bewahren und weiterzugeben. Damit nicht wieder geschieht, was einmal geschehen ist, wie es der große Primo Levi gesagt hat. Das ist ihr Auftrag an uns. Das ist der Auftrag, dem sich das POLIN-Museum verpflichtet hat: die Erinnerung zu bewahren an jüdisches Leben in Polen und Europa. Jüdisches Leben, das wieder aufgeblüht ist und auch in Zukunft blühen wird.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Mehr Raum Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns erinnern. Deshalb ist es so wichtig, dass wir Deutsche uns erinnern. Gela Seksztajn, Rachela Auerbach, Marek Edelman, Mordechai Anielewicz, Emanuel Ringelblum, wer kennt ihre Namen heute in Deutschland? Welche Verbrechen die Deutschen hier im besetzten Polen, hier im Warschauer Ghetto verübt haben, verdient mehr Raum in unserer Erinnerung.

Deshalb ist es mir so wichtig, heute hier zu sein. Ich bin heute hier, um Ihnen zu sagen: Wir Deutsche wissen um unsere Verantwortung und wir wissen um den Auftrag, den die Überlebenden und die Toten uns hinterlassen haben. Wir nehmen ihn an. Für uns Deutsche kennt die Verantwortung vor unserer Geschichte keinen Schlussstrich. Sie bleibt uns Mahnung und Auftrag in der Gegenwart und in der Zukunft.

»Deutsche haben Europas Jüdinnen und Juden, die Jüdinnen und Juden Warschaus mit einer Grausamkeit und Unmenschlichkeit verfolgt, versklavt, ermordet, für die uns die Worte fehlen.«

Frank-Walter Steinmeier

Deutsche haben Polen überfallen. Am 1. September 1939 griffen sie Wieluń an. Es war der Beginn des Zweiten Weltkriegs – vor vier Jahren haben wir in Wieluń und hier in Warschau gemeinsam daran erinnert. Ein Krieg, der weit mehr als 50 Millionen Menschen das Leben kosten sollte, darunter Millionen Polinnen und Polen. Ein Krieg, der hier und im Osten Europas zu einem mörderischen Vernichtungskrieg wurde. Ein Krieg, der in die Barbarei führte.

Unmenschlichkeit Deutsche haben das Menschheitsverbrechen der Shoah minutiös geplant und durchgeführt. Deutsche haben Europas Jüdinnen und Juden, die Jüdinnen und Juden Warschaus mit einer Grausamkeit und Unmenschlichkeit verfolgt, versklavt, ermordet, für die uns die Worte fehlen. Dass der Hauptverantwortliche für die Vernichtung des Ghettos, der brutale und zynische Schlächter Jürgen Stroop, aus der Stadt stammte, in der ich geboren bin, ist ein historischer Zufall, aber hat mich mich mit der Hölle des Warschauer Ghettos, den Opfern und dem teuflischen Täter und seinen Mittätern immer wieder beschäftigen lassen. Zur Wahrheit gehört auch, dass viel zu wenige andere Täter sich verantworten mussten nach dem Krieg.

Ich stehe heute vor Ihnen und bitte um Vergebung für die Verbrechen, die Deutsche hier begangen haben.

Geschenk Lieber Präsident Duda, lieber Präsident Herzog, viele Menschen in Ihren beiden Ländern, in Polen und in Israel, haben uns Deutschen trotz dieser Verbrechen, trotz des Menschheitsverbrechens der Shoah Versöhnung geschenkt. Welch unendlich kostbares Geschenk war das! Ein Geschenk, das wir nicht erwarten konnten und nicht erwarten durften. Es war dieses Geschenk, das es überhaupt erst möglich machte, dass unsere Länder, dass Polen und Deutschland, dass Israel und Deutschland heute tiefe Freundschaft verbindet.

Diese Freundschaft zwischen unseren Ländern – sie ist wahrlich ein Wunder-Werk! Sie ist ein Wunder nach den beispiellosen Verbrechen der Deutschen – und sie ist zugleich das Werk der Generationen vor uns; das mutige, mühevolle Werk von Israelis, Polen und Deutschen, die einander die Hände gereicht haben über dem Abgrund der Vergangenheit – für eine bessere Zukunft.

75 Jahre nach der Gründung des Staates Israel, fast 60 Jahre nach dem Brief der polnischen Bischöfe, über 50 Jahre nach dem Kniefall Willy Brandts hier auf diesem Platz, fast 40 Jahre nach dem ersten Staatsbesuch Israels in Deutschland durch Deinen Vater Chaim Herzog, stehen heute wir, lieber Andrzej, lieber Buji, an diesem historischen Ort, in Erinnerung an die Ermordeten und in Verantwortung für das Wunderwerk der Versöhnung. Ich weiß, dass uns alle drei dieses Bekenntnis verbindet: Wir müssen und wir wollen das Wunderwerk der Versöhnung bewahren und in die Zukunft führen.

Freiheit und Demokratie Die wichtigste Lehre aus unserer Geschichte lautet: Nie wieder! Nigdy więcej! !לעולם לא עוד Nie wieder Rassenwahn, nie wieder entfesselter Nationalismus, nie wieder ein barbarischer Angriffskrieg. Nie wieder – darauf gründet unser gemeinsames Europa. Uns, die wir heute hier gemeinsam gedenken, uns verbinden der Glaube an unsere gemeinsame Zukunft und unsere gemeinsamen Werte: die Gültigkeit des Völkerrechts, das friedliche Zusammenleben aller Menschen in Freiheit und Demokratie.

»Ich stehe heute vor Ihnen und bitte um Vergebung für die Verbrechen, die Deutsche hier begangen haben.«

Frank-Walter Steinmeier

Wladimir Putin hat mit seinem völkerrechtswidrigen Angriff auf ein friedliches, demokratisches Nachbarland diese Werte verhöhnt und die Grundlagen unserer europäischen Sicherheitsordnung zerstört. Der russische Präsident hat das Völkerrecht gebrochen, Grenzen in Frage gestellt, Landraub begangen. Dieser Krieg, er bringt den Menschen in der Ukraine unermessliches Leid, Gewalt, Zerstörung, Tod.

Sie in Polen, Sie in Israel, Sie wissen aus Ihrer Geschichte, dass Freiheit und Unabhängigkeit erkämpft und verteidigt werden müssen. Sie wissen, wie wichtig es ist, dass eine Demokratie sich wehrhaft zeigt.

Ukraine Aber auch wir Deutsche haben die Lehren aus unserer Geschichte gelernt. Nie wieder, das bedeutet, dass es in Europa keinen verbrecherischen Angriffskrieg wie den Russlands gegen die Ukraine geben darf. Nie wieder, das bedeutet: Wir stehen fest an der Seite der Ukraine – gemeinsam mit Polen und mit unseren anderen Bündnispartnern. Wir unterstützen die Ukraine humanitär, politisch und militärisch – gemeinsam mit Polen und unseren Bündnispartnern. Nie wieder, das bedeutet, dass wir, die liberalen Demokratien, stark sind, wenn wir gemeinsam und vereint handeln.

Das meine ich, wenn ich von unserer Verantwortung vor der Geschichte spreche. Wir Deutsche werden dieser Verantwortung für die Verteidigung von Frieden und Freiheit gerecht. Und ich bin überzeugt: Unsere Länder, unsere liberalen Demokratien sind in den vergangenen Monaten noch enger zusammengerückt, unsere Freundschaft steht heute auf einem noch stärkeren Fundament.

Hier auf diesem Platz, neben dem Ehrenmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto, stehe ich in Trauer und Demut vor Ihnen. Ich bekenne mich zu unserer Verantwortung für die Verbrechen der Vergangenheit und zu unserer Verantwortung für unsere gemeinsame Zukunft!

Ich danke Ihnen.

Berlin

Ausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz beschädigt

Kuratorin: «Auffällig, dass ausgerechnet Plakate zum israelbezogenen Antisemitismus beschädigt wurden«

 24.04.2024

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Umfrage

Studie: Für die meisten muslimischen Schüler ist der Koran wichtiger als deutsche Gesetze

Fast die Hälfte der Befragten will einen islamischen Gottesstaat

 22.04.2024

Vereinte Nationen

»Whitewash«: UNRWA-Prüfbericht vorgelegt

Eine Untersuchung sollte die schweren Vorwürfe gegen das UN-Hilfswerk aufklären - vorab sickerten erste Details durch

von Michael Thaidigsmann  22.04.2024

Berlin

Ausstellung will Leben in Geiselhaft simulieren

In der Fasanenstraße werden in einem Container die Bedingungen der Geiseln in Gaza simuliert

von Pascal Beck  22.04.2024

Rechtsextremismus

»Höckes Sprachgebrauch ist ein klarer Angriff - und erfolgreich«

Der Soziologe Andreas Kemper zu Strategien des AfD-Politikers

von Nils Sandrisser  22.04.2024

Frankreich

Französischer Bürgermeister zeigt Hitlergruß - Rücktrittsforderungen

Die Präfektur Val-de-Marne will die Justiz einschalten

 22.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Österreich

Vier Deutsche nach Gedenkbesuch bei Hitlers Geburtshaus angezeigt

Die Verdächtigen waren nach Braunau gefahren, um dort weiße Rosen niederzulegen

 22.04.2024