Der Zentralrat der Juden in Deutschland blickt mit allergrößter Sorge auf den russischen Einmarsch in der Ukraine. »Die Angriffe Russlands auf die Ukraine verfolgen wir mit höchster Aufmerksamkeit«, sagte Zentralratspräsident Josef Schuster am Donnerstag im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen.
»Die Situation erfüllt uns mit tiefer Sorge. In unseren Gemeinden gibt es sehr viele Mitglieder mit familiären Wurzeln in Russland oder in der Ukraine«, betonte Schuster. »Viele bangen um ihre Angehörigen. Wir hoffen, dass die internationale Diplomatie doch noch dazu führt, dass der Krieg bald beendet wird.«
HINTERGRUND Russland hatte in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag einen Krieg gegen die Ukraine begonnen. Präsident Wladimir Putin ordnete am frühen Donnerstagmorgen eine Militäroperation in den Regionen Luhansk und Donezk an.
Angriffe mit Kampfflugzeugen, Hubschrauber und Raketen wurden auch aus anderen Teilen der Ukraine gegen die militärische Infrastruktur gemeldet. Nach Angaben des ukrainischen Militärs kamen mehr als 40 Soldaten ums Leben. Erstmals in dem seit acht Jahren dauernden Konfliktstehen sich damit russische und ukrainische Soldatengegenüber.
Putin hatte am Montag die Unabhängigkeit der Separatistengebiete Donezk und Luhansk in der Ostukraine anerkannt. Dort rollten nun russischen Panzer ein. Der Kremlchef plant zum zweiten Mal nach 2014 einen Einmarsch in die Ukraine.
Russland hat nach westlichen Angaben etwa 150.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen.
SANKTIONEN US-Präsident Joe Biden, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), die Europäische Union und die Nato verurteilten Putins Vorgehen scharf und kündigten umgehend weitere Sanktionen an. Die Strafmaßnahmen zielen vor allem darauf, Russland von den Finanzmärkten abzuschneiden.
In einer Fernsehansprache, die gegen 3.30 Uhr MEZ begann, sagte Putin in Moskau: »Ich habe beschlossen, eine Sonder-Militäroperation durchzuführen. Ihr Ziel ist der Schutz der Menschen, die seit acht Jahren Misshandlung und Genozid ausgesetzt sind.« Russland strebe die Entmilitarisierung und die Entnazifizierung der Ukraine an.
Die Nato geht als Reaktion in den Krisenmodus. Sie aktiviert die Verteidigungspläne für Osteuropa. Der Oberbefehlshaber der Nato-Streitkräfte bekommt weitreichende Befugnisse, um zum Beispiel Truppen anzufordern und zu verlegen, wie die Deutsche Presse-Agentur aus Bündniskreisen erfuhr.
POLEN Die US-Regierung hat seit Beginn des Konflikts um die Ukraine bereits rund 6000 Soldaten in osteuropäische Nato-Mitgliedsländer verlegt oder deren Verlegung angekündigt. Die meisten von ihnen wurden nach Polen verlegt, das im Osten an die Ukraine grenzt.
Biden verurteilte den russischen Angriff im Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. «Die Gebete der ganzen Welt sind heute Nacht beim ukrainischen Volk, während es unter einem unprovozierten und ungerechtfertigten Angriff durch die russischen Streitkräfte leidet», erklärte der US-Präsident. «Die Welt wird Russland zur Rechenschaft ziehen.»
Biden wollte noch am Donnerstag mit seinen Amtskollegen aus der Gruppe der sieben wichtigsten Wirtschaftsnationen sprechen.
Bundeskanzler Scholz sicherte Selenskyj «die volle Solidarität Deutschlands in dieser schweren Stunde» zu. Scholz nannte den russischen Angriff einen eklatanten Bruch des Völkerrechts.
Als Reaktion brach die Ukraine die diplomatischen Beziehungen mit Russland ab. Präsident Wolodymyr Selenskyj rief den Kriegszustand aus.
KRISENGIPFEL Die neuen EU-Sanktionen werden nach Angaben von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Zugang russischer Banken zu den europäischen Finanzmärkten stoppen. Russische Vermögenswerte in der EU sollen eingefroren, wichtigen Sektoren der russischen Wirtschaft der Zugang zu Schlüsseltechnologien und Märkten verwehrt werden. Am Abend soll ein EU-Krisengipfel über das Sanktionspaket beraten.
Ein erstes Paket hatte die EU bereits nach Anerkennung der Unabhängigkeit der Separatistenregionen Donezk und Luhansk beschlossen.
An den internationalen Handelsplätzen brachen die Kurse ein. In Frankfurt ging der Leitindex Dax auf Talfahrt. Direkt zum Handelsstart fiel die Marke von 14.000 Punkten.
Außenministerin Annalena Baerbock hat nach dem russischen Angriff auf die Ukraine harte zusätzliche Sanktionen gegen Russland angekündigt. «Wir werden das volle Paket mit massivsten Sanktionen gegen Russland auf den Weg bringen», sagte sie in Berlin.
Deutschland werde sich mit der Europäischen Union, der Nato sowie den stärksten Wirtschaftsmächten im G7-Format abstimmen.
SICHERHEIT Die Bundesregierung rief deutsche Staatsangehörige auf, die Ukraine zu verlassen. Die deutsche Botschaft in der Hauptstadt empfahl Deutschen dringend, sich in Sicherheit zu bringen.
Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs griff russisches Militär Gebiete und Siedlungen entlang der Staatsgrenze sowie mehrere Flugplätze an. Laut Grenzschutz rückten russische Panzer in die Ostukraine ein. Mehrere Kolonnen hätten im Gebiet Luhansk bei Krasna Taliwka, Milowe und Horodyschtsche von russischem Territorium aus die Grenze überquert.
Einem von der Behörde veröffentlichen Video zufolge sind russische Truppen auch von der annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim ins Kerngebiet der Ukraine vorgedrungen.
Das Militär schoss nach eigenen Angaben im Gebiet Luhansk fünf russische Flugzeuge und einen Hubschrauber ab.
Die Separatisten im Gebiet Luhansk teilten mit, zwei Kampfflugzeuge der Ukraine vom Typ Su-24 seien abgeschossen worden.
Die Berichte ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
EINMARSCH Insgesamt wurden nach Angaben des ukrainischen Generalstabs mindestens sechs Flugplätze angegriffen, darunter Boryspil, etwa 40 Kilometer von Kiew entfernt, Tschuhujiw im Gebiet Charkiw und Kramatorsk im Gebiet Donezk. Die Armee wehre Luftangriffe ab und sei in voller Kampfbereitschaft, hieß es.
Ein Korrespondent der Deutschen Presse-Agentur in Kiew berichtete, dass auch in der Hauptstadt Donnerschläge zu hören waren. Es war unklar, woher diese kamen.
Die von Russland unterstützten Separatisten meldeten nach dem Einmarsch die Einnahme von zwei Kleinstädten. Es handele sich dabei um Stanyzja Luhanska und um Schtschastja, teilten die Separatisten mit.
Dem widersprach der ukrainische Militärsprecher Olexij Arestowytsch. Die Frontlinie in der Ostukraine sei nicht durchbrochen worden. Die Kleinstadt Schtschastja sei weiter unter ukrainischer Kontrolle. ja/dpa