Jom Haschoa

»Die Nazis haben mein Leben zerstört«

Am Dienstag hielt der Holocaust-Überlebende Leon Schwarzbaum bei einer Gedenkveranstaltung von Keren Hayesod, der Initiative 27. Januar und Hadassah Deutschland in der Berliner Synagoge Pestalozzistraße eine Gedenkrede. Wir dokumentieren die Rede hier in Auszügen.

Ich bin am 20. Februar 1921 in Hamburg-Altona geboren. Ich bin das einzige Kind von Josef und Esthera Schwarzbaum, mein Vater hatte nach dem Ersten Weltkrieg ein Altmetallgeschäft in Hamburg. 1924 sind wir nach Polen umgesiedelt, weil meine Mutter Heimweh hatte. Wir zogen nach Bedzin in Oberschlesien, nahe Kattowitz. Ich besuchte das Fürstenberg-Gymnasium, wo ich im Juli 1939 Abitur gemacht habe. Meine ganze Familie lebte in einem Haus, meine Eltern stellten auf dem Dachboden Daunendecken her.

Die Stadt Bedzin war weitgehend jüdisch geprägt, voller Kultur und Leben. Ein Leben, das nie wieder zurückkehrte, auch nicht nach dem Krieg. Das Leben verlief in geraden, ordentlichen Bahnen. Ich spielte Basketball und Tennis. Mit Freunden machte ich Musik, wir mochten den amerikanischen Swing – wir nannten uns die »Jolly Boys«.

synagoge Vier Wochen nach meinem Abitur brach das Unheil über uns herein. Gleich Anfang September wurden in Bedzin in der Synagoge Menschen erschossen und verbrannt, auf der Straße wurden Polen exekutiert. Doch trotzdem kam uns das Grauen erst scheibchenweise zu Bewusstsein. Der Vater war sich sicher: Die Deutschen sind anständige Menschen, nicht wenige aus dem Volk sind Dichter und Denker.

Die Enttäuschung mussten wir bitter am eigenen Leib erfahren. Schritt für Schritt nahm die Entrechtung ihren Lauf, Juden durften keine Hunde und Katzen mehr haben, dann keine Fotoapparate und Radios. Dann war es verboten, die Hauptstraßen zu betreten, die Schulen wurden geschlossen. Nach den Verboten wurde es noch schlimmer, alle Juden wurden in das Ghetto von Bedzin, das Kamionka hieß, gesperrt. Zuvor sind Polen, die dort wohnten, vertrieben worden.

Zehntausende Menschen waren dort eingesperrt, Ende Juni 1943 waren die meisten »ausgesiedelt«, wie es beschönigend hieß. Dabei wurden alle in Zügen nach Auschwitz verfrachtet, das nur 50 Kilometer von Bedzin entfernt liegt. Wir wussten, was Auschwitz bedeutet. Ich wurde von meiner Familie getrennt, blieb als Einziger zurück und wurde Anfang August 1943 nach Auschwitz verschleppt. 35 Menschen sind allein aus meiner Familie ermordet worden.

sammelstelle An der Sammelstelle, wo die Juden in die Züge gezwungen wurden, wurde ich erstmals Zeuge eines Mordes. Ein SS-Offizier namens Peikert gibt einem älteren Soldaten den Befehl, ein etwa 17-jähriges Mädchen zu erschießen. Sie hat rote Haare. Sie hatte versucht zu fliehen. Der Soldat hat Hemmungen, weigert sich zwei Mal. Da greift der SS-Offizier zur Pistole und schießt das Mädchen in den Kopf. Ich stand daneben und hatte auch versucht zu fliehen, er hat mich nicht erschossen.

Man hatte eine Ahnung davon, was in Auschwitz passierte, zum Beispiel durch Gefangene, die geflohen waren, oder von polnischen Maurern, die mit an den Krematorien arbeiten mussten. Mit dieser Vorahnung warfen manche Eltern ihre kleinen Kinder aus den fahrenden Zügen, in der Hoffnung, wenigstens diese würden überleben.

Ankunft in Auschwitz an der Rampe. (...) Selektion, dann Haare abschneiden, entlausen. Nummer tätowieren. Der Tätowierer, selbst ein Jude, gibt mir den Tipp, der mich rettet: Wenn du leben willst, dann suche dir auf jeden Fall eine Tätigkeit. Er sagt mir auch, dass die Juden-aus den Bedzin-Transporten sofort nach der Ankunft vergast wurden. Ich wusste also, dass meine Eltern und alle anderen tot waren.

appell »Wer kann gut laufen?«, fragt der Lagerälteste am nächsten Morgen beim Appell. Ich springe sofort aus der Reihe und denke, das ist die lebensrettende Tätigkeit. Ich wurde also Laufbursche (...). Ich muss den Lagerältesten über alles auf dem Laufenden halten, was sich im Lager tut, und ihn in Windeseile auf dem riesigen Gelände ausmachen, um ihm etwa zu melden, wenn jemand Wichtiges ins Lager kommt. Die Aufgabe ist anstrengend und gefährlich. Wenn ich versagt hätte, hätte mich der Lagerälteste sofort ans Messer geliefert. Zehn bis 14 Stunden hielt ich Ausschau nach Neu-Ankömmlingen und schlief nicht selten im Stehen ein. (...)

Hinter dem harmlos klingenden Namen des Sonderkommandos verbargen sich diejenigen Juden, die zur »seelischen Schonung« der SS-Männer dazu gezwungen wurden, die Menschen in die Gaskammern zu führen und die Ermordeten auszuplündern und ihnen die Goldzähne auszuschlagen. Diese Unglücklichen litten unter der erzwungenen Mittäterschaft und wurden als Zeugen regelmäßig selbst ermordet und durch neue Leute ersetzt. Von ihnen haben nur wenige die Schoa überlebt.

selektion Immer hungrig und immer in Angst vor der Selektion sah der »normale« Tagesablauf im KZ so aus, dass man morgens um fünf Uhr geweckt wurde, sich mit kaltem Wasser wusch, und abends um 19 Uhr das Licht ausging. Mehrere Hundert lebten auf engstem Raum, wo man abends eine Läuse-Kontrolle über sich ergehen lassen musste. Das geschah alle paar Tage, wir hatten alle Angst vor Typhus. Wir hatten Angst, ein »Muselmann« zu werden, so wurden die todkranken unterernährten Menschen genannt, die mit einer Decke über dem Kopf wie lebende Tote umherwankten. (...)

Noch in Auschwitz (...) wurde ich Zeuge eines Transportes aus Ungarn. Die erschöpften Menschen von der langen Reise ohne Essen und Trinken sahen uns und riefen: »Wasser! Wasser!« Wir konnten nichts machen und auch nichts sagen. Sie gingen zu Fuß zu den Gaskammern, eine halbe Stunde später waren sie alle tot. ln Bobrek ist niemand von uns selektiert oder erschossen worden.

Die Todesmärsche waren schlimmer als das Leben in Bobrek. Wer auf den Märschen schlappmachte, wurde erschossen. Als die Russen näher kamen im Januar 1945, bekam jeder eine Decke und ein kleines Brot und musste in Holzschuhen nach Gleiwitz marschieren. ln Gleiwitz waren die Baracken überfüllt, und wir mussten draußen bei Kälte und Schnee kampieren.

Von Gleiwitz ging die Fahrt in offenen Waggons nach Buchenwald. Von dort holten uns Siemens-Leute nach Berlin. Wir landeten im Außenlager Haselhorst in Berlin-Spandau, dort, wo jetzt der große Metro-Markt ist. Wir waren wie eine Schicksalsgemeinschaft mit unseren Peinigern, wir wurden gleichermaßen von den amerikanischen und britischen Flugzeugen bombardiert. Eine Bombe traf den Bunker mit 30 SS-Leuten, die waren sofort tot. Wir mussten die Leichen und die Trümmer beseitigen.

todesmarsch Wir waren noch nicht frei. Das Lager brannte aus, und man brachte uns über Bernau mit der S-Bahn nach Sachsenhausen. Als die Russen näher an Berlin rückten, brachte uns die SS auf einen Todesmarsch Richtung Nordwesten. Unter anderem waren wir im Belower Wald. Wir schliefen auf dem Boden und bekamen keine Verpflegung, wir haben Gras und Brennnesseln gegessen. Die Todesrate war sehr hoch, wer nicht laufen konnte, wurde erschossen.

Kurz vor Schwerin wurden wir am 5. Mai 1945 von den Amerikanern befreit, danach kamen die Russen. Ich habe danach versucht, noch Freunde oder Verwandte in der alten Heimat in Bedzin zu finden, habe aber niemanden gefunden. Über Umwege und mithilfe eines jüdischen-Fluchthelfers bin ich von Polen aus nach Berlin gekommen und dort geblieben. (...) Mit meiner Frau habe ich ein Antiquitäten-Geschäft am Wittenbergplatz geführt. Seit sie gestorben ist, bin ich häufig an Schulen unterwegs, denn es ist mir wichtig, den jungen Menschen meine Erfahrungen mit den Nazis mitzuteilen.

blocksperre Es verfolgen mich bis heute jeden Tag Bilder aus der Zeit. Eines jedoch kommt immer wieder hoch: Auschwitz-Birkenau – mal wieder eine Blocksperre. Man durfte nicht draußen sein und nicht durch die Ritzen der Baracke schauen. Der SS-Sturmführer Schwarzhuber – ein Österreicher – fährt auf einem Motorrad vor einem Lastwagen her, der vollgestopft ist mit nackten Menschen. Die Menschen heben die Arme in den Himmel, sie weinen und sie schreien. Niemand konnte ihnen mehr helfen.

Die SS war grausam und sadistisch, die Nazis haben mein Leben zerstört. 35 Angehörige meiner Familie sind ermordet worden. Je älter ich werde, desto mehr muss ich an das Geschehene denken. Ich bin jetzt 95 und träume häufig davon. Warum haben diese Menschen so etwas getan? Warum haben so viele mitgemacht, was war der Grund oder die Motivation? Das möchte ich gerne wissen. Warum so viele Millionen Juden, Sinti, Roma und andere Menschen ermordet wurden.

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