Zeitgeschehen

»Die jüdische Identität ist bei uns wichtig«

30 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen, und im Oktober 2020 begeht das Land den 30. Jahrestag der Wiedervereinigung. Wie haben Jüdinnen und Juden, die in der DDR und der Sowjetunion aufwuchsen, die Wendejahre und die frühen 90er-Jahre erlebt? Wie blicken sie auf das Land, in dem sie geboren wurden oder in das sie kamen? Was bedeutet es für sie, heute jüdisch zu sein? Soll man in Zeiten des offenen Antisemitismus gehen oder bleiben? Wir haben die Autorin Anja Schindler, die Pädagogin Sandra Anusiewicz-Baer, den Stadtführer Jörg Benario und den Journalisten Dmitrij Kapitelman zusammengebracht und sie dazu gefragt. Sie haben für uns nach vorn und auch zurückgeblickt.

Frau Anusiewicz-Baer, welche Rolle spielte es für Sie in der DDR, jüdisch zu sein?
Sandra Anusiewicz-Baer: Für mich war es etwas Besonderes, denn wenn alle anderen Weihnachten feierten, konnte ich noch eins drauf setzen und sagen: »Und wir feiern außerdem Chanukka.« Ich habe zu Weihnachten eine Kette mit Davidstern bekommen, und die »bunten Teller« gab es in der jüdischen Gemeinde auch: Marzipan lag darauf, Orangen. Vorher haben wir die Chanukkageschichte gehört. Ich fand es klasse, etwas außerhalb der DDR-Norm zu haben.

Sandra Anusiewicz-BaerFoto: Stephan Pramme

Nach der Wende sind viele Juden als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gekommen. Herr Kapitelman, auch Ihre Eltern hatten sich entschieden, auszuwandern. Wie haben Sie diesen Schritt empfunden?
Dmitrij Kapitelman: Wenn es um Deutschland ging, wurde mir immer folgende Angstkulisse aufgebaut: »Und da, mein Freund, da ist es vorbei mit dem Faulsein. Da musst du den ganzen Tag lernen, arbeiten, sonst will dich da keiner – nicht einmal als Kloputzer.« Ich habe als Kind gehofft, wenigstens mal auf den Balkon zu dürfen. Meine Eltern werden darauf gebaut haben, dass es ein ganz anderes, leichteres Leben für mich geben wird. Ich werde oft gefragt, warum wir aus der Ukraine emigrierten, und antworte dann immer: Weil wir es konnten.

Dmitrij KapitelmanFoto: Stephan Pramme

Frau Schindler, Sie sind nach der Wende relativ schnell nach Israel gefahren und haben dort Ihre Verwandten besucht.
Anja Schindler: Meine erste Reise führte mich zu meinen Cousinen und meiner Tante. Ich habe, ehrlich gesagt, ein Problem mit der Identität und kann es nicht verstehen, wie Menschen stolz darauf sein können, deutsch zu sein. Wenn mir das alles zu viel wird, fahre ich nach Israel und Russland. Da allerdings, sagen mir meine Freunde, bin ich sehr deutsch. Ich muss irgendwie dort sein, um zu merken, dass ich deutsch bin.
Jörg Benario: Ich habe keine Heimwehgefühle. Ich sehe mich nicht als Deutscher, ich sehe mich als Berliner. Bei uns wurde immer darauf geachtet, dass es die jüdische Identität gibt, der Ort, an dem das passierte, war komplett egal. Die jüdische Identität ist bei uns wichtig.

Anja SchindlerFoto: Stephan Pramme

Am 9. November 1989 waren Sie 40 Jahre alt, Frau Schindler. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?
Anja Schindler: Ich arbeitete damals beim Fernsehen. Am 10. November kam ein Kollege in die Redaktion, der erzählte, er komme gerade aus West-Berlin. Ich dachte, ich hätte mich verhört. Ich hatte zwar die Pressekonferenz mit Günter Schabowski verfolgt, konnte mir aber nicht vorstellen, dass das wirklich passiert.

HerrBenario, Sie waren 22 Jahre alt. Wie ist Ihnen dieser Abend in Erinnerung?
Jörg Benario: Wir waren eine Gruppe von vier oder fünf Leuten, die alle schon einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Irgendwann stieß noch ein anderer Freund zu uns und sagte, dass wir in den Westen könnten. Wir glaubten ihm kein Wort. Also bin ich nachts um eins im »Schwarztaxi« die Schönhauser Allee langgefahren und wunderte mich auf Höhe der Bornholmer Kreuzung über die Tausenden von Menschen. Sämtliche Probleme mit meinem Ausreiseantrag hatten sich natürlich mit einem Schlag erledigt. Ich hatte eigentlich vor, nach Israel zu gehen.

Jörg BenarioFoto: Stephan Pramme

Eine sehr genaue Erinnerung. Das war bei Ihnen anders, Frau Anusiewicz-Baer.
Sandra Anusiewicz-Baer: Ja, das hatte mit der Geografie zu tun, denn ich lebte ja in Dresden. Ich habe kürzlich in meinem Tagebuch geblättert, das voll ist mit Erinnerungen aus dem Jahr 1989. Mein Wunsch war immer nur: Raus. Die Welt sehen. Ungarn, die Tschechoslowakei – das konnte nicht alles gewesen sein. Ich wollte zu den Verwandten in die USA, nach Frankreich, wollte an meine Wurzeln anknüpfen und nicht eingesperrt sein. Nach dem Fall der Mauer bin ich fast jedes Wochenende nach West-Berlin gefahren – in die Disko und zum Shoppen: Mein Tagebuch war voll von Konsum. In unserer Familie kam allerdings schnell die Frage auf, ob wir nach Israel gehen sollten oder nicht.

Herr Kapitelman, Sie waren 1989 in Kiew und drei Jahre alt ...
Dmitrij Kapitelman: ... und ich sehe Michail Gorbatschow im Fernsehen. Auch in meiner Familie stellte sich sehr bald die Frage, nach Israel zu gehen, jetzt, da die Möglichkeit da war. Wegen der Hitze des Nahen Ostens und der Bedenken, wie es mir dort gehen würde, als Sohn eines jüdischen Vaters und einer nichtjüdischen Mutter, haben sich meine Eltern aber dann für Deutschland entschieden.

Sie waren zuerst in der sächsischen Kleinstadt Meerane und anschließend in Leipzig-Grünau. Wie war die Stimmung dort? War es Aufbruch?
Dmitrij Kapitelman: Eher eine Zerbruchstimmung. Die Leute glaubten nicht mehr an das, was sie umgab. Ihr Wertekompass war zerbrochen. In Grünau wurde es sehr schnell sehr heftig mit den Nazis. Ich wusste: Du musst ein politisches Bewusstsein entwickeln, sonst umgibst du dich mit den falschen Leuten, ohne dass du es weißt.

Diese Zeit Anfang der 90er hat mit »Baseballschlägerjahre« einen Hashtag bekommen. Wie haben Sie diese Jahre wahrgenommen?
Jörg Benario: In die Berlin-Mitte-Blase haben sich die Nazis größtenteils nicht hineingetraut, aber es gab trotzdem immer wieder Überfälle auf den »Eimer« (ein 1990 gegründeter Club in der Rosenthaler Straße, Anm. d. Red.). Berlin war irgendwie aufgeteilt: Man wusste, die Nazis wohnen in Lichtenberg in der Weidligstraße.
Anja Schindler: ... und in Johannisthal ...
Dmitrij Kapitelman: Es war ja auch keine subtile Gesellschaftsbewegung. Wenn jemand neben deiner Tür halb tot geschlagen wird, dann fällt das auf. Und in Leipzig war jeder, der nicht rechts war, links.
Sandra Anusiewicz-Baer: Allein wegen solcher Dinge musstest du ja in diesen Jahren ein politischer Mensch werden. Der Vater eines sehr guten Freundes war Iraker, der konnte nicht in bestimmte Gegenden gehen. Also das, was heute als No-go-Areas gilt, das gab es damals schon. Die Mähr vom antifaschistischen Staat war doch Quatsch. All das, was die ganzen Jahre in der DDR unterdrückt wurde, brach auf.
Anja Schindler: Ich bin ja nun eine andere Generation und war schon sehr politisiert, aber unsere Angst hatte ganz konkrete Gründe. Jedesmal, wenn ich Hakenkreuze sah – die waren ja plötzlich überall rangeschmiert –, dann habe ich das mit der Geschichte meiner Familie verbunden. Und dann diese öffentlichen Nazi-Auftritte. Ich dachte manchmal: Ich bin im falschen Film. Bei uns zu Hause herrschte plötzlich panische Angst.
Jörg Benario: Ich habe allerdings auch zu DDR-Zeiten schon Erinnerungen an die Nazis, wegen meines Davidstern, den ich trug. Hinzu kam noch der ganz alltägliche Antisemitismus: Was ich als Kind an sogenannten Judenwitzen gehört hab, nachdem ich es öffentlich gemacht hatte, dass ich Jude bin, das war schlimm. Und der ganze Antifaschismus in der DDR ...
Anja Schindler: ... also ich habe daran geglaubt. Olga Benario (Jörg Benarios Großcousine, Anm. d. Red.) war eine unserer Heldinnen. Wir sind ja mit Helden groß geworden.
Jörg Benario: Ja, die Helden. Juden kamen aber in der Geschichtsschreibung der DDR nicht vor. Erst gegen Ende der 80er-Jahre änderte sich das. Wer da auf einmal alles jüdisch war ...

Hat Sie das überrascht?
Jörg Benario: Vielleicht ein wenig verwundert, aber ich wusste ja: Bei mir gab es nichts Neues zu entdecken. Es war eher eine Genugtuung, dass Juden nun auch erwähnt wurden.

Sie sind mit Ihrem Vater durch Israel gefahren, Herr Kapitelman. Haben Sie das Gefühl, dass Sie ab und zu noch einmal hinmüssen?
Dmitrij Kapitelman: Nein. Ich empfinde momentan nicht die dringende emotionale Notwendigkeit hinzufahren. Das wird sich bestimmt auch wieder ändern.
Sandra Anusiewicz-Baer: Mich hat es emotional immer sehr bewegt. Ich war das erste Mal 1993 in Israel, habe dort studiert und nach meiner Rückkehr und meinem Abschluss einen Alija-Antrag bei der Jewish Agency gestellt.

Sie waren fest entschlossen auszuwandern?
Sandra Anusiewicz-Baer: Ja, aber dann habe ich meinen Mann kennengelernt und bin hiergeblieben. Wenn ich aber in Israel bin, mag ich es sehr. In letzten Zeit war ich beruflich viel in Jerusalem, eine Stadt, zu der ich eine etwas schwierige Beziehung habe. Aber ich finde sie auch sehr spannend und will mich dort fallenlassen.
Jörg Benario: Ich war 1991 in Israel und werde noch einmal hinfahren, um es meiner Tochter zu zeigen.
Sandra Anusiewicz-Baer: Zwischendrin warst du nicht da?
Jörg Benario: Nein, denn das Judentum, wie ich es in der Familie gelernt habe, existiert, finde ich, nur in der Diaspora. Du verlierst in Israel das Judentum, wenn du nicht religiös bist. Auffällig ist ja auch, dass die säkularen Israelis, die herkommen, ihre Religiosität wiederfinden.

Sind Sie nach der Wende jüdischer geworden?
Anja Schindler: Offener! Zu DDR-Zeiten war mir eher wichtig, dass, wenn Leute über mich sprechen, sagen, dass ich Russin bin. Vor allem in den ersten Jahren in der DDR. Was allerdings in der DDR über die Sowjetunion erzählt wurde, entsprach bei Weitem nicht der Realität. Ich erinnere mich, dass, wenn es mal Zucker gab, sich mein Vater nachts anstellten musste, um überhaupt etwas zu bekommen.
Jörg Benario: Also ich hatte eine Art Erweckungserlebnis. Meine Eltern hatten mir nichts über das Judentum erzählt, bis ich sieben oder acht Jahre alt war. Wir sprechen hier ja über die 70er-Jahre, und man wusste ja nicht, ob der Klassenkamerad vielleicht von einem SS-Opa erzogen wurde. Wenn irgendwas war, war ich immer der »Halbrusse«, weil meine Mutter in Moskau geboren war. Ich fühlte mich immer als Außenseiter. Eines Tages fragte mich meine Oma, ob ich auch mal »zur Kindergruppe« will. Und dann ging ich in die Oranienburger Straße in den Hinterhof zur Kindergruppe. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, die anderen Kinder, die da saßen, sind wie ich.

Woran haben Sie das festgemacht?
Jörg Benario: An dem, was ich unterbewusst von zu Hause mitbekommen habe. Wenn man aus einer Familie kommt, in der das Judentum hochgehalten wurde, entwickelt man eine Antenne für Menschen, die Juden sind. Unsere Identität entwickelt sich in der Diaspora.
Sandra Anusiewicz-Baer: Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen: Der Fall der Mauer hat mein Judentum gerettet. Ich glaube nämlich, dass es sonst verloren gegangen wäre. In der Jüdischen Gemeinde gab es Biografien, die sich fundamental von denen der Mehrheitsgesellschaft unterschieden. Ich hätte mich ohne Mauerfall nicht auf meinen Weg begeben können. Für mich war es ein großes Glück, den Rest der Familie kennenzulernen und sich auch an Israel zu reiben.
Dmitrij Kapitelman: Für mich ist das Judentum erst einmal auch russisch. Die Kinder von Eltern, die in der Sowjetunion oder im ehemaligen Ostblock groß geworden sind, setzen sich heute auch ganz anders mit Traditionen auseinander oder brechen mit ihnen. »Sich an Israel reiben«, das fand ich schön ausgedrückt. Ich werde auch in der Gegenwart irgendwie immer jüdischer.

Weshalb?
Dmitrij Kapitelman: Als Gegengewicht. Einfach weil es wieder so okay ist, sogar im Bundestag Nazislogans zu sagen. Dagegen möchte ich auch als Publizist anschreiben!

Hassverbrechen, steigender Antisemitismus – das Jahr 2019 war geprägt von vielen judenfeindlichen Attacken, besonders auch von dem Anschlag auf die Synagoge in Halle an Jom Kippur. War so ein Anschlag zu erwarten?
Sandra Anusiewicz-Baer: Halle traf mich in einer ganz anderen Intensität, weil zwei unserer Studenten dabei waren.
Jörg Benario: Zu erwarten war es, dass etwas passiert, aber nicht in dieser Form. Das Radikalisierungsniveau ist ein anderes. Ich sehe das in Halle aber als Einzeltat und nicht als gesellschaftliche Strömung.
Dmitrij Kapitelman: Ich habe vor zwei Jahren den Bürgermeister von Bautzen interviewt. Ich fragte ihn, wie krass es ist. Und wenn dir jemand aus Ostdeutschland sagt, dass wir starken Rechtsterrorismus haben, dann bist du von Halle nicht überrascht.
Anja Schindler: Ich war zu dieser Zeit bei einer Buchvorstellung in Chemnitz. Und das erste, was ich sah, als ich in der Stadt ankam, war ein riesengroßes Hakenkreuz. Interessant aber war, dass die Menschen mit mir abends nicht über dieses Hakenkreuz reden wollten, sondern über Israel. Ich musste mich dann rechtfertigen: Ich sei keine Israelin und habe Netanjahu auch nicht gewählt.
Sandra Anusiewicz-Baer: Das geht mir auch immer so. Aber ich bin da mittlerweile auf dem Stand: Lieber sie fragen mich, als wenn ihnen jemand anderes irgendwas erzählt.

Es gibt immer wieder Gedankenspiele, Juden sollten Deutschland jetzt lieber verlassen. Haben Sie auch schon einmal darüber nachgedacht und sich die Frage gestellt: Bleiben oder Gehen?
Jörg Benario: Also! Wo soll ich denn hin? Definitiv nein. Ich weiß aber, dass die Zeiten sehr ungemütlich werden könnten. Aber wie mein Großvater sagte: »Warum ich nach Deutschland gekommen bin? Weil ich kann!« Warum soll ich also jetzt gehen? Drei Viertel der Wähler stimmen nicht für die AfD. Ich lass mich nicht vertreiben.
Anja Schindler: Gibt es diese drei Viertel wirklich? Würde uns der Rest beschützen? Ich habe da so meine Zweifel.
Dmitrij Kapitelman: Also, ich kann gar nicht gehen! Ich habe nach zwei Jahren eine Einbürgerungszusicherung vom deutschen Staat. Es hat mich ein paar Tausend Euro und ein paar Tausend Nerven gekostet. Man darf nicht vergessen, dass ich aus der Ukraine ausgebürgert werden musste. Das alles wird einem nicht leichtgemacht. Ich habe fünf verschiedene Versicherungen abgeschlossen, um den Forderungen des deutschen Staats zu entsprechen.
Sandra Anusiewicz-Baer: Und das ist ja auch letztendlich eine ökonomische, nicht nur eine politische Frage. So wie wir hier alle sitzen, ist unser Leben wahrscheinlich gut. Ich habe eine Aufgabe hier, bin nur von Leuten umgeben, die ein Interesse am Judentum haben. Es ist vielleicht eine Blase, aber ich bleibe!
Dmitrij Kapitelman: Wir haben ja das große »Bleiben oder Gehen« aufgemacht. Das romantische vielleicht. Aber wie steht es mit der Frage: Soll ich aus Hoyerswerda gehen? Lieber nach Berlin? Auch, wenn ich weiß, dass es theoretisch besser wäre zu bleiben, um Juden in Hoyerswerda zu haben, verstehe ich jeden, der geht. Ich bin ja auch gegangen.
Anja Schindler: Ich kläre das für mich seit Jahren so: Ich fahre nach St. Petersburg und komme gerne nach Berlin zurück. Ich fahre nach Beer Sheva und komme noch lieber nach Hause zurück. Vielleicht ist das eine Art Verdrängung, aber ich könnte mir nie vorstellen, woanders zu leben als in Berlin.

Das Gespräch führten Katrin Richter und Katharina Schmidt-Hirschfelder. Die Porträts machte Stephan Pramme.

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