NS-Geschichte

»Die größte Lebenslüge der Bundesrepublik«

Antisemitismusforscher Samuel Salzborn Foto: marta. krajinovic.

Die Debatte über die Erinnerungskultur in Deutschland scheint immer wieder auf – nicht nur zu Gedenktagen. Wird genau richtig, zu wenig oder zu ritualisiert an die Opfer der Schoa und anderer NS-Verbrechen erinnert?

Manch einer meint, es sei zu viel, Stichwort »Schlussstrich«. Andere wiederum zeigen sich stolz auf deutsche Erinnerungsleistungen. Mitunter fällt auch der Begriff »Erinnerungsweltmeister«, der freilich meist ironisch gemeint ist.

Essay Der Antisemitismusforscher Samuel Salzborn hat nun den mit deutlichen Worten formulierten und mitunter zu einem generalisierenden Rundumschlag geratenen Essay »Kollektive Unschuld – Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern« vorgelegt. Er erschien im März im Verlag Hentrich & Hentrich.

Salzborn kommt zu dem Schluss: »Es ist nicht weniger als die größte Lebenslüge der Bundesrepublik: der Glaube an eine tatsächliche Aufarbeitung der Vergangenheit.«

Eine »kleine, gebildete, linksliberale Elite« sehe ein Phänomen, das es zwar im intellektuellen Diskurs gebe. Gesamtgesellschaftlich und auf privater Ebene sei es aber unzureichend verankert und werde sogar hartnäckiger denn je abgewehrt: Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, Abschied vom »eigenen Opfermythos« und Auseinandersetzung mit der »antisemitischen Täterschaft in so gut wie allen Familiengeschichten« – sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland.

vernichtung Und: Nachdem die Deutschen »die antisemitische Vernichtung über Europa und die Welt« gebracht hätten, wollten sie nun »auch ihr Erinnerungsmodell exportieren, unter dessen glänzendem Lack nichts ist als der Rost des deutschen Opfermythos und der antisemitischen Schuldabwehr«, schreibt Salzborn.

Sein 136-seitiges Buch ist eingebettet in den 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus. Gleich in der Einleitung räumt Salzborn ein, dass er sehr zugespitzt formuliere. Und er betont, dass er durchaus anerkenne, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland »Gegenbewegungen« zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus gab, etwa in Wissenschaft und Politik. Nur: »Sie alle waren nie die Mehrheit in Deutschland.«

Als einen der »Gründungsmythen der Bundesrepublik« bezeichnet der Politikwissenschaftler den »Opfermythos der Deutschen«.

Salzborns These ist nicht nur, dass es eine selbstkritische Aufarbeitung der Vergangenheit allenfalls rudimentär gegeben habe. Über Jahrzehnte sei die Gesellschaft von einer »Tätergemeinschaft des Nationalsozialismus« zu einer »Erinnerungsabwehrgemeinschaft der Bundesrepublik« geworden: Sie selbst hätten sich zu Opfern stilisiert – und nicht verfolgte und ermordete Juden als solche sehen wollen.

Gründungsmythos Als einen der »Gründungsmythen der Bundesrepublik« bezeichnet der Politikwissenschaftler den »Opfermythos der Deutschen«. Und schlägt einen Bogen der Versäumnisse und Verharmlosungen, an denen Politiker, Vertriebenenverbände, Schriftsteller, Filmschaffende und Privatleute, die sich ihrer Familiengeschichte nicht stellten, Anteil hätten.

Um dies zu untermauern, führt Salzborn immer wieder Vorgänge der Nachkriegsgeschichte an: eine unzureichende Entnazifizierung in Politik und Justiz; Freisprüche für Nazigrößen; Vertreibungen von Menschen und Bombardierungen deutscher Städte nicht in den Kontext der NS-Politik und ihrer Folgen zu stellen.

Er erkennt mit Blick auf Flucht und Vertreibung zugleich aber auch »moralisch zweifelsfrei zu verurteilende Grausamkeiten während der Vertreibung« an.

Ungleichgewicht Salzborn kritisiert außerdem ein Ungleichgewicht von finanziellen Leistungen: So habe das Lastenausgleichsgesetz von 1952 zugunsten von Vertriebenen ein Volumen von umgerechnet rund 67 Milliarden Euro gehabt. Demgegenüber stünden mit Stand 2017 rund 76 Milliarden aus sämtlichen Zahlungen für ehemalige KZ-Häftlinge und Verfolgte – dies sei im Vergleich »grotesk gering«.

Die Gegenwart erscheint bei Salzborn düster. So stünden zum Beispiel einer intensiven geschichtswissenschaftlichen Forschung Menschen gegenüber, die an den Ergebnissen oft nicht interessiert seien. Der Autor macht eine Rechtsradikalisierung und die AfD als Sprachrohr von Antisemiten aus. Am Ende könne Erinnerung durchaus plural sein, so Salzborn – das bedeute aber eben auch, dass nicht jede Erinnerung wahr sei.

Europa

Kniefall in Warschau - Söder gedenkt Polens Kriegsopfern

In Warschau legt Markus Söder einen Opferkranz nieder und kündigt polnische Hinweisschilder für Bayerns Gedenkstätten an. Im Gespräch mit dem Regierungschef geht es um einen aktuellen Krieg

 11.12.2024

Meinung

Syrien: Warum machen wir immer wieder den gleichen Fehler?

Der Westen sollte keinem Mann vertrauen, der bislang als Terrorist gesucht wurde

von Jacques Abramowicz  11.12.2024

Meinung

Es sollte uns beschämen, dass Juden in Deutschland sich nicht mehr sicher fühlen können

Ein Gastbeitrag von Adrian Grasse

von Adrian Grasse  11.12.2024

RIAS

Experten kritisieren Normalisierung antisemitischer Narrative

Sie sind überall verfügbar, im Internet und analog: Legenden, die gegen Juden und die Demokratie gerichtet sind. Das zeigt eine neue Studie - und nimmt speziell auch den Rechtsextremismus in den Blick

 11.12.2024

Bern

Schweiz verbietet Hamas

Ein neues Gesetz verbietet die Hamas, Tarn- und Nachfolgegruppierungen sowie Organisationen und Gruppierungen, die im Auftrag der Terrorgruppe handeln. Jüdische Organisationen begrüßen den Schritt

 11.12.2024

Restitution

Familie verliert ihr in der Nazizeit gekauftes Grundstück

85 Jahre lebt eine Familie in einem Haus in Brandenburg. Zuvor hatte es zwei jüdischen Frauen gehört, die schließlich von den Nazis ermordet wurden

 11.12.2024

Debatte

Rabbiner für Liberalisierung von Abtreibungsregelungen

Das liberale Judentum blickt anders auf das ungeborene Leben als etwa die katholische Kirche: Im jüdischen Religionsgesetz gelte der Fötus bis zur Geburt nicht als eigenständige Person, erklären liberale Rabbiner

von Leticia Witte  11.12.2024

Gelsenkirchen

Bekommt Bayern-Torhüter Daniel Peretz Konkurrenz?

Münchens Sportvorstand Max Eberl macht eine klare Ansage

 11.12.2024

Meinung

Syrien und die verfrühte Freude des Westens über den Sieg der Islamisten

Ein Gastkommentar von Ingo Way

von Ingo Way  11.12.2024