Jahrestag

Der Kniefall des Kanzlers

Willy Brandt ehrt die Helden des Warschauer Ghettos. Foto: ullstein bild - Sven Simon

Die Nationalsozialisten hatten Willy Brandt 1938 die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Da war er 24 Jahre alt und im norwegischen Exil, organisierte und koordinierte Widerstandsaktionen gegen das NS-Regime. Dass dieser Mann 24 Jahre nach dem Krieg deutscher Bundeskanzler werden konnte, war eine Ansage, die optimistisch stimmte.

Am 7. Dezember 1970 unterzeichnete Willy Brandt in Polen den »Warschauer Vertrag«, mit dem Deutschland die Oder-Neiße-Linie als Grenze zum polnischen Nachbarn anerkannte. Noch am selben Tag geschah dann das, was man später die »größte Geste seiner Amtszeit« nennen würde: Willy Brandt kniete in Warschau am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos nieder. Ein bewegendes Bild, das bei vielen Juden in Deutschland, aber auch anderswo, Hoffnungen weckte und Sehnsüchte erfüllte.

Sekunden Weltweit war die Sekundensequenz des »Kniefalls« eines deutschen Kanzlers auf dem Boden des ehemaligen Warschauer Ghettos dazu geeignet, seine Wirkung als Abbild eines neuen, anderen Deutschlands zu entfalten. Man war vorsichtig bereit, Brandts Geste als ein Symbol zu deuten. Genau 50 Jahre ist das nun her. Wie hat diese Geste auf Menschen gewirkt, die in Polen zur Welt kamen, die den Krieg, Konzentrationslager und die Schoa überlebt hatten und am Ende im Land der Mörder ihrer Familien und Freunde hängen geblieben waren?

Martin Marianowicz, 1955 in Warschau, »nur etwa einen halben Kilometer vom Ehrenmal entfernt«, geboren, erinnert sich. »Meine Mutter, die ganze Familie: Uns hat das alle einfach mitgerissen«, sagt der 65-Jährige. Noch heute könne es ihm Tränen in die Augen treiben, wenn er sich an die tiefen Emotionen erinnert. Mit Marianowicz, der seit 1958 in Deutschland lebt und bis heute in München als Arzt arbeitet, hat der »Kniefall« etwas gemacht: »Das hat mich sehr geprägt, war eine politische Zäsur für mich, war ohne Frage das einschneidendste politische Erlebnis meiner Jugend.«

Ein bewegendes Bild, das bei vielen Juden in Deutschland, aber auch anderswo, Hoffnungen weckte und Sehnsüchte erfüllte.

Politisch aktiv und interessiert sei er damals als fast 16-Jähriger ohnehin schon gewesen, »und zwar eher links«. Er habe sehr genau beobachtet, und da sei in diesen Jahren auch einiges gelaufen mit Ostverträgen, sagt Marianowicz. »Aber mit einem Schuldeingeständnis hatte das alles nichts zu tun, eher mit Geld und einem Wegschiebenwollen. Und dann diese große Geste, dieses klare ›Mea Culpa‹ – plötzlich dieses Bild.« Der junge Martin war danach »natürlich ein fanatischer Brandt-Anhänger«. Das Bild des knienden Willy Brandt kann Marianowicz bis heute schnell abrufen.

Roman Haller, der 1944 im Wald bei Tarnopol in der heutigen Ukraine geboren wurde und der als Direktor der »Nachfolgeorganisation der Claims Conference« tätig ist, kann sich nicht mehr daran erinnern, wie bei seinen Eltern, Ida und Lazar, die Bilder vom knienden Kanzler ankamen. Was er aber weiß, ist, dass »sie damals eigentlich allem Deutschen gegenüber äußerst skeptisch waren«. Haller würde dem Kniefall Willy Brandts – anders als deutschen Politikern heute, deren Worten und Gesten er wenig Vertrauen entgegenbringt – »durchaus Aufrichtigkeit zugestehen«.

Vertrauen Auch die Leiterin des Kulturzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde München, Ellen Presser, erinnert sich. 1954 als Tochter polnischer Displaced Persons in München geboren, stellt sie fest, dass bei vielen Ereignissen aus ihrer Kindheit und Jugend die Reaktionen der Eltern präsenter sind als die eigenen.

»Für meinen Vater war Willy Brandt einer der wenigen vertrauenswürdigen Politiker, weil biografisch unbelastet. Er rätselte, ob Brandt einem Schwächeanfall nahe auf die Knie fiel, überwältigt von dem Ausmaß der Verbrechen, die im Umfeld des Mahnmals verübt worden waren.« Die Mutter empfand »die Geste als das Mindeste«. Daher sei sie auch richtig wütend geworden »angesichts der zynischen, ablehnenden Reaktionen auf Brandts Geste«.

Im Jahr 2000 ist nicht weit vom Ehrenmal ein Denkmal errichtet worden, das eben an jenen Kniefall Brandts erinnert. Ellen Presser kennt es, stand recht unvermittelt davor und beschreibt, wie es auf sie gewirkt hat: »Ich fand es nur kitschig, pathetisch und instrumentalisiert.«

Wien

Juden protestieren gegen FPÖ-Veranstaltung für Antisemiten im Parlament

Als »radikalen Antisemiten« hatte sich der Österreicher Franz Dinghofer einst selbst bezeichnet - auch der NSDAP trat er bei. Die rechtsextreme FPÖ gedenkt des Politikers nun - und wird dafür hart kritisiert

 11.11.2025

Projekte gegen Antisemitismus

Berliner Kultursenatorin räumt Defizite bei Fördermittel-Vergabe ein

In Berlin sollen Mittel für Projekte gegen Antisemitismus nach unklaren Kriterien und auf Druck und Wunsch aus der CDU-Fraktion vergeben worden sein. Kultursenatorin Wedl-Wilson will nun »aufräumen«

 11.11.2025

Initiative

Knesset stimmt über Gesetz zu Todesstrafe ab

Wer in Israel tötet, um dem Staat und »der Wiedergeburt des jüdischen Volkes« zu schaden, soll künftig die Todesstrafe erhalten können. Das sieht zumindest ein umstrittener Gesetzentwurf vor

 11.11.2025

Berlin

Ein streitbarer Intellektueller

Der Erziehungswissenschaftler, Philosoph und Publizist Micha Brumlik ist im Alter von 78 Jahren gestorben. Ein persönlicher Nachruf

von Julius H. Schoeps  11.11.2025

Terror

Netanjahu: Israels Kampf gegen Feinde noch nicht vorbei

Laut Ministerpräsident Netanjahu beabsichtigen die Hamas und die Hisbollah weiterhin, Israel zu vernichten. Die Waffenruhe-Abkommen mit beiden will Israel demnach durchsetzen - solange diese gelten

 11.11.2025

Diplomatie

Al-Schaara schließt normale Beziehungen zu Israel aus

Der syrische Staatschef wurde von US-Präsident Donald Trump im Weißen Haus empfangen. Bei dem historischen Treffen ging es auch um die Abraham-Abkommen

 11.11.2025

Meinung

Wahlen in Ostdeutschland: Es gibt keine Zeit zu verlieren

In Mecklenburg-Vorpommer und Sachsen-Anhalt wird im September gewählt. Es steht viel auf dem Spiel: Eine AfD-Regierung könnte großen Schaden anrichten. Leidtragende wären nicht zuletzt die jüdischen Gemeinden

von Joshua Schultheis  10.11.2025

Medien

So erzeugt man einen gefährlichen Spin

Wie das Medienunternehmen »Correctiv« den Versuch unternimmt, die Arbeit des israelischen Psychologen Ahmad Mansour fragwürdig erscheinen zu lassen

von Susanne Schröter  10.11.2025 Aktualisiert

Würzburg

Zentralrat der Juden fordert mehr Zivilcourage gegen Hass

Beim Gedenken an die Novemberpogrome in Würzburg hat Juden Schuster die grassierende Gleichgültigkeit gegen Judenhass kritisiert

 10.11.2025