Die Gründung des Zentralrats der Juden in Deutschland im Juli 1950 war ein Zeichen des Trotzes. Die Gründer trotzten zum einen der deutschen Geschichte. Immerhin hatten die Nazis das Reich nur wenige Jahre vorher für »judenrein« erklärt. Zum anderen aber trotzten sie auch dem vorherrschenden Geist in den jüdischen Gemeinden außerhalb Deutschlands.
1947 hatte der Jüdische Weltkongress erklärt, dass es kein jüdisches Leben mehr auf dieser »blutgetränkten« Erde geben sollte. Die gleich nach 1945 wiedergegründeten Gemeinden sollten nichts als »Liquidationsgemeinden« sein, deren vorübergehende Existenz spätestens mit der Gründung und Etablierung des Staates Israel keine Berechtigung mehr hätte.
»Juden in Deutschland« – das unterstrich die Distanzierung zu einer in den Jahren davor fremd gewordenen Umgebung.
Auch der deutsch-jüdischen Geschichte trotzte man. Der Name der neuen Organisation, der sich deutlich von der größten jüdischen Organisation der Weimarer Republik, dem »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«, unterschied, machte bereits deutlich, dass hier nicht einfach an die durch das Dritte Reich gewaltsam zerstörten Traditionen und Strukturen angeknüpft werden sollte. »Juden in Deutschland« – das unterstrich die Distanzierung zu einer in den Jahren davor fremd gewordenen Umgebung und zugleich die Anpassung an eine neue Realität, in der die Mehrzahl der Gemeindemitglieder nicht mehr aus Deutschland stammte, sondern vor allem osteuropäische Schoa-Überlebende waren.
In den ersten Jahren und Jahrzehnten musste sich der Zentralrat vor allem den Problemen einer Gemeinschaft der knapp dem Tod Entronnenen widmen. Es ging darum, ihnen ein würdiges Weiterleben zu ermöglichen, sich um ihre religiösen Grundbedürfnisse zu kümmern, ihre finanzielle Entschädigung zu ermöglichen und die vielen verwaisten Friedhöfe zu pflegen. Entscheidende Gestalt in den ersten Jahrzehnten war bis zu seinem Tod 1973 der langjährige Generalsekretär George Hendrik van Dam, der aus dem Exil zurückgekehrt war und sich als Rechtsanwalt vor allem auch den Restitutionsangelegenheiten widmete.
Erst ab den 70er-Jahren wurden dann langsam die Weichen Richtung fernere Zukunft gestellt. Es wurde klar, dass viele Jüngere in Deutschland blieben oder nach Deutschland zurückkehrten. Der Zentralrat sorgte gemeinsam mit den Gemeinden und Landesverbänden dafür, dass neue Synagogen gebaut und Rabbiner eingestellt wurden, Religionsunterricht gewährleistet wurde und 1979 die Hochschule für Jüdische Studien zur Ausbildung des Nachwuchses eröffnet werden konnte. Es bedeutete einen Rückschlag, als kurz nach dem Tod des langjährigen Zentralratsvorsitzenden Werner Nachmann 1988 dessen Veruntreuung von »Wiedergutmachungsgeldern« bekannt wurde. Der offensiven Aufklärungsarbeit seines Nachfolgers Heinz Galinski ist es zu verdanken, dass der Zentralrat unbeschädigt aus dieser Affäre hervorging.
Ab den 70er-Jahren war klar, dass viele Juden hierbleiben wollten.
Die demokratisch aus dem Kreise ihrer Mitgliedsgemeinden gewählte Führung des Zentralrats kümmert sich um die Gewährleistung jüdischen Lebens im Inneren und dient gleichzeitig als Vertretung der in Deutschland lebenden Juden nach außen. Dass kein Gremium die Meinungen aller Juden repräsentieren kann, muss man nicht extra betonen. Bekanntlich gibt es ja mindestens drei Meinungen, wenn zwei Juden zusammenkommen. Und die Herausforderungen des Zentralrats wurden nicht geringer, sondern größer: Ab den 90er-Jahren galt es, die Stimmen der aus der Sowjetunion Zugewanderten zu integrieren, dem wachsenden religiösen Pluralismus innerhalb der Gemeinden gerecht zu werden, die auch unter Juden unterschiedlichen Meinungen gegenüber der Politik Israels so gut wie möglich zu respektieren und sich dem erstarkten Antisemitismus wirksam entgegenzustellen.
Man kann dem Zentralrat nur wünschen, auch weiterhin offen sowie tolerant nach innen und kompromisslos im Einsatz für die Demokratie nach außen zu wirken.
Die Präsidenten des Zentralrats seit der deutschen Wiedervereinigung – Heinz Galinski, Ignatz Bubis, Paul Spiegel, Charlotte Knobloch, Dieter Graumann und Josef Schuster – haben diese gewiss nicht leichten Aufgaben mit diplomatischem Fingerspitzengefühl und entschiedenem Auftreten erfüllt. Nicht selten verließen sie ihr Amt mit einer gewissen Resignation, wie etwa Ignatz Bubis, der 1999 im letzten Gespräch vor seinem Tod auf die rechtsradikalen Anschläge von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen und auf die problematische Rede von Martin Walser zurückblickte und ausrief: »Ich habe nichts bewirkt.« Aus heutiger Perspektive kann man dem nur widersprechen.
Der Zentralrat hat entscheidend dazu beigetragen, dass aus einem arg zusammengeschrumpften Häuflein von Überlebenden, die sich in Hinterhöfen versammelten, eine zahlenmäßig größere und pluralistische, eine sichtbare und auch eine selbstbewusste Gemeinschaft geworden ist, die trotz aller gesellschaftlichen Gefahren gut gerüstet die nächsten Jahre angehen kann. Man kann dem Zentralrat nur wünschen, auch weiterhin offen sowie tolerant nach innen und kompromisslos im Einsatz für die Demokratie nach außen zu wirken – und somit den bedrohlicher werdenden Zeichen der Zeit zu trotzen.
Der Autor ist Historiker und Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München.