Plädoyer

Beim Namen nennen

»Kind jüdischer Eltern«, »mosaischen Glaubens« – Bleiben wir doch lieber bei »Juden«. Das sind wir. So heißen wir. Foto: Marco Limberg

Vielen Deutschen geht es nur schwer von der Zunge, das Wort »Jude«. Es hat in ihren Ohren offenbar einen unangenehmen Beiklang. Jemanden so zu nennen, verstößt gegen die Umgangsformen.

Als etwa 1997 der damalige britische Außenminister Malcolm Rifkind bei einem Deutschlandbesuch Luthers »Hier stehe ich und kann nicht anders« anführte und die Frankfurter Allgemeine darüber mit den Worten berichtete, »der Jude Rifkind« habe den protestantischen Glaubensvater zitiert, brach ein Sturm der Entrüstung aus, an dessen Ende die FAZ sich offiziell für die »beleidigende Äußerung« entschuldigen musste. »Jude«, eine Beleidigung? Es scheint, dass auch zwei Generationen nach den Nazis die negative Konnotation des Wortes noch immer fest in vielen Köpfen steckt.

Der Historiker und Buchautor Dmitrij Belkin schrieb kürzlich im Wochenmagazin Focus, die Sprache der Kommunikation über »die Juden« sei in Deutschland extrem verkrampft: Er hätte gern, dass man in Deutschland das Wort »Jude« sagt, ohne jedes Mal dabei zusammenzuzucken, und dabei gleichzeitig die verallgemeinernde Formel »diese Juden« tunlichst vermeidet.

sprachgebrauch Am liebsten wäre es manchen Deutschen wahrscheinlich, wenn man einen neuen, unbelasteten Begriff finden könnte, so, wie man ja auch nicht mehr »Zigeuner« sagt, sondern »Sinti und Roma«. Da es so etwas für Juden jedoch nicht gibt, behilft man sich mit Umschreibungen. In der alten Bundesrepublik war die gängige Bezeichnung »jüdische Mitbürger«. Der Begriff ist glücklicherweise aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Das »Mit« vor dem »Bürger« implizierte stets etwas Zweitrangiges: deutsche Bürger und jüdische Mitbürger.

Heute sagt man lieber, jemand sei »jüdischer Herkunft«. Schon besser, aber etwas ungenau. Herkunft kann auch bedeuten, dass der so Beschriebene jüdische Vorfahren hat, selbst aber nicht mehr Jude ist. »Kind jüdischer Eltern« oder »in eine jüdische Familie geboren« rückt die Angelegenheit zwar generationell näher, ist aber gleichermaßen mehrdeutig. Es bezeichnet oft Menschen, die als Juden geboren wurden, selbst aber das Judentum verlassen haben. Der verstorbene Erzbischof von Paris, Kardinal Jean-Marie Lustiger, etwa war der Sohn jüdischer Eltern, aber qua Taufe Katholik.

Dann wäre da noch »jüdischen Glaubens«. Auch schwierig. Die vielen ungläubigen, säkularen Juden fielen heraus. Zudem ist das Judentum primär keine Glaubens-, sondern eine Gesetzesreligion. Das Tun entscheidet, nicht das Bekennen. »Jüdischen Handelns« wäre der theologisch richtigere Begriff. Doch abgesehen davon, dass ihn kaum jemand verstünde, könnte er auch schiefe Assoziationen an das historische Stereotyp des Handelsjuden wecken.

gemeinde »Mitglied einer jüdischen Gemeinde« böte sich als klare und eindeutige Bezeichnung an, würde allerdings nur einen Teil der 200.000 Juden hierzulande erfassen, von denen rund die Hälfte eben keiner Gemeinde angehört. Und ob sich das genderneutrale »Jüd_in« (beziehungsweise »JüdIn«, »Jüd*in«) wirklich durchsetzen wird, ist zweifelhaft.

Allein Jugendliche mit muslimischem Migrationshintergrund gehen unbefangen mit dem Wort um. »Jude« gehört auf deutschen Schulhöfen neben »Opfer« und »schwul« zu den beliebtesten Beschimpfungen. Und bei Demonstrationen während des Gaza-Kriegs 2014 war der Schlachtruf zu hören: »Jude, Jude, feiges Schwein/komm heraus und kämpf’ allein.« Den verschämteren deutschen Antisemiten kommen solch krude Vokabeln nicht über die Lippen: Sie sprechen lieber von »Zionisten«. Gemeint ist dasselbe, es klingt aber reflektierter. Man ist sich schließlich der historischen Verantwortung bewusst.

Fairerweise muss man an dieser Stelle sagen, dass auch Juden selbst oft mit den Begrifflichkeiten hadern. Der verstorbene Heinz Galinski beispielsweise sprach vorzugsweise von »jüdischen Menschen« oder, noch unverfänglicher, von »unseren Menschen«. Heute nennt man sich gerne »jüdische Gemeinschaft« oder, neudeutsch, »Community«.

assimilation Die jüdische Scheu vor dem Wort »Jude« hat Tradition. Im 19. Jahrhundert bürgerte sich in Preußen die Bezeichnung »mosaischen Glaubens« ein. Ursprünglich eine staatliche Verordnung für das Personenstandswesen, wurde sie von den meisten Juden gern angenommen. Im Zuge der Assimilation wollte man nicht länger Jude sein, sondern Deutscher, nur eben eines anderen Bekenntnisses.

Weiter südlich und südwestlich wählte man das Adjektiv »israelitisch«, das sich in Namen wie »Israelitische Kultusgemeinde München« oder »Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg« erhalten hat. »Der Israelit« hieß das in Frankfurt/Main herausgegebene »Centralorgan für das orthodoxe Judentum« der Agudas Israel.

Bleiben wir da doch lieber bei »Juden«. Das sind wir. So heißen wir. Geben wir dem Wort seinen alten, stolzen Klang zurück! So wie es Benjamin Disraeli tat. Der britische Premierminister des 19. Jahrhunderts wurde, so eine Anekdote, im Unterhaus einmal von einem irischen Abgeordneten als »Jude« beschimpft und antwortete: »Ja, ich bin Jude. Und als die Vorfahren des ehrenwerten Gentleman als primitive Wilde auf einer unbekannten Insel hausten, waren meine Priester im Tempel Salomos.«

Der Autor ist Publizist in Berlin.

Berlin

Prozess um Angriff am Holocaust-Mahnmal: »Tat zugegeben«

Polizisten berichten von der Begegnung mit dem Angeklagten wenige Stunden nach der Tat

 27.11.2025

Debatte um Hamas-Nähe

Mitglieder des ZDF-Kontrollgremiums fordern Konsequenzen

Nachdem ein mutmaßlicher Terrorist über eine Partnerfirma an Produktionen des öffentlich-rechtlichen Senders mitgewirkt hat, soll der Fall nun parlamentarisch aufgearbeitet werden

 27.11.2025

Berlin

Späte Gerechtigkeit? Neue Schiedsgerichte zur NS-Raubkunst

Jahrzehnte nach Ende der Nazi-Zeit kämpfen Erben jüdischer Opfer immer noch um die Rückgabe geraubter Kunstwerke. Ab dem 1. Dezember soll es leichter werden, die Streitfälle zu klären. Funktioniert das?

von Cordula Dieckmann, Dorothea Hülsmeier, Verena Schmitt-Roschmann  27.11.2025

USA

Staatsanwaltschaft rollt den Fall Etan Patz neu auf

Der jüdische Junge Etan Patz verschwindet am 25. Mai 1979 auf dem Weg zur Schule. Jahre später wird er für tot erklärt

 26.11.2025

Urteil

Verbot des Berliner Palästina-Kongresses war rechtswidrig

Das Berliner Verwaltungsgericht hat das Verbot eines Palästina-Kongresses nachträglich für rechtswidrig erklärt

 26.11.2025

Hans-Jürgen Papier

»Es ist sehr viel Zeit verloren gegangen«

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts zieht eine Bilanz seiner Arbeit an der Spitze der »Beratenden Kommission NS-Raubgut«, die jetzt abgewickelt und durch Schiedsgerichte ersetzt wird

von Michael Thaidigsmann  26.11.2025

Wehrpflicht

Freiheit gemeinsam verteidigen

Russlands Angriffskrieg unterstreicht die Notwendigkeit einer starken Bundeswehr. Wenn die Situation es erfordert, dann müssen auch wir Juden bereit sein, unseren Beitrag zu leisten

von Josef Schuster  26.11.2025

Verhandlung

Verbot israelfeindlicher Proteste: Berlin mit Klagen konfrontiert

Das Verwaltungsgericht prüft zwei unterschiedlich gelagerte Klagen von Veranstaltern einer Demonstration im Dezember 2023 und des sogenannten Palästina-Kongresses im April 2024

 26.11.2025

Potsdam

BSW vor Zerreißprobe: Dorst stellt Parteiverbleib infrage

Die jüngsten Ereignisse haben Implikationen für die Landesregierung. Bei nur zwei Stimmen Mehrheit im Landtag könnte jeder Bruch in der BSW-Fraktion ihr Ende bedeuten

 26.11.2025