Anklage

Beihilfe zum Mord

Zum geplanten Prozessbeginn erschien die Angeklagte nicht; er wurde nun auf den 19. Oktober verlegt. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Wegen Beihilfe zum Mord in 11.380 Fällen und Beihilfe zum versuchten Mord in sieben weiteren Fällen muss sich die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F. eigentlich seit vergangener Woche vor dem Landgericht Itzehoe in Schleswig-Holstein verantworten. Doch die 96-Jährige erschien nicht in dem eigens für diesen Prozess in einem Logistikzentrum in einem Gewerbegebiet eingerichtetem Gerichtssaal.

Alle waren da am 30. September, als der Prozess gegen die Frau beginnen sollte, die vor mehr als 76 Jahren persönliche Sekretärin und Stenotypistin eines KZ-Kommandanten war. Mitte 1943 war die damals 18-Jährige als Schreibkraft ins Konzentrationslager Stutthof bei Danzig gekommen. Nun saßen im Saal auch zwölf Anwälte von Nebenklägern, also Überlebenden und Angehörigen von Opfern. Auch Staatsanwältin Maxi Wantzen, die gegen F. die Anklage erhoben hatte, wartete. Ebenso bereits auf seinem Platz saß der Verteidiger der einstigen KZ-Mitarbeiterin, der Kieler Rechtsanwalt Wolf Molkentin. Und über 50 Besucher und Journalisten, die den Prozessauftakt dokumentieren und beobachten wollten. Doch der Platz der Angeklagten blieb frei.

Kurz nach 10 Uhr betrat dann Dominik Groß den Verhandlungssaal: »Die Angeklagte ist flüchtig«, sagte der Vorsitzende der 3. Strafkammer, vor der der Stutthof-Prozess stattfindet. Das Gericht erließ einen Haftbefehl, Fahndungsmaßnahmen gegen die 96-Jährige liefen an.

ERMITTLUNGEN Dass Irmgard F. nicht zum Prozess kommen werde, hatte sie im Vorfeld sogar angekündigt. In einem Brief an Richter Groß schrieb F., sie wolle nicht erscheinen. Den Prozess gegen sich empfände sie als entwürdigend. F. verwies in dem Schreiben auch auf das Strafverfahren gegen einen Wachmann des KZs Stutthof, Harry S. aus Wuppertal.

Das dortige Landgericht hatte das Verfahren gegen den ehemaligen SS-Aufseher im März wegen dessen dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. F. sah eine so begründete Einstellung wohl auch als Möglichkeit für ihren Prozess. Trotz des Briefes blieb F. auf freiem Fuß.

Am frühen Morgen des ersten Verhandlungstages stieg Irmgard F. vor ihrem Pflegeheim in Quickborn bei Hamburg dann in ein Taxi. Offenbar ließ sie sich zu einem U-Bahnhof bringen. Von dort ging die Flucht weiter.

Die Angeklagte habe dem Staatsanwalt zufolge »ein reines Gewissen«.

Die ehemalige KZ-Schreibkraft Irmgard F. hat einen ganz eigenen Blick auf das Verfahren. Zwar würde die Angeklagte die Mordtaten im KZ Stutthof nicht anzweifeln, betont ihr Pflichtverteidiger Molkentin. »Es besteht mit meiner Mandantin Einigkeit, dass die dort begangenen Haupttaten nicht angezweifelt werden«, sagt der Anwalt. Als Ermittler sie 2017 in ihrem Zimmer im Pflegeheim vernahmen, bezeichnete F. die Ermittlungen gegen sie jedoch als lächerlich.

KOMMANDANTUR Von den Mordtaten habe sie erst nach Kriegsende erfahren – auch wenn ihr Arbeitsplatz in der Kommandantur direkt neben dem Haupteingang des Lagers lag. Welche Schreiben sie für ihren Chef, den KZ-Kommandanten Paul Werner Hoppe, habe erledigen müssen, wisse sie nicht mehr, erklärte F. den Ermittlern. Weil sie nichts Unrechtes getan habe, sagte F. dem Staatsanwalt zufolge, habe sie ein reines Gewissen.

Doch dem Prozess wollte sich Irmgard F. nicht stellen. Ihre Flucht löste bei Beobachtern in Itzehoe Verwunderung bis Kopfschütteln aus. Dass sich eine mutmaßliche NS-Täterin im Jahr 2021 auf der Flucht befindet, schien skurril. Von einer »zynischen Verachtung des Rechtsstaates« sprach Christoph Heubner vom Internationalen ­Auschwitz Komitee. Diese Haltung des Schweigens, Verachtens und Zerstörens sei ebenjene Haltung, die die SS gehabt habe. Dem Gericht warf Heubner vor, nicht auf die Flucht der Angeklagten vorbereitet gewesen zu sein.

Wenn sich die Angeklagte in einem der letzten, späten NS-Prozesse durch Flucht einem fairen Verfahren entziehen könnte, wäre dies für Überlebende unerträglich, sagten Vertreter der Nebenklage am Rande des Prozesses. Rechtsanwalt Onur Özata, der drei Holocaust-Überlebende vertritt, forderte, die Strafverfolgungsbehörden müssten jetzt alles daransetzen, die Flüchtige zu fassen.

STRAFTÄTER Am frühen Nachmittag nahm die Polizei Irmgard F. dann im Norden Hamburgs fest. Rund zehn Kilometer weit von ihrem Wohnort entfernt wurde sie aufgegriffen. Nach dem Fluchtversuch brachte die Polizei F. zum Landgericht. Ihr wurde der Haftbefehl eröffnet. Wie andere mutmaßliche Straftäter, die sich ihrem Prozess durch Flucht entziehen, schickte das Gericht die 96-Jährige – nach Prüfung der Haftfähigkeit durch einen Arzt – zunächst in Untersuchungshaft.

Bis Dienstag blieb sie in der Justizvollzugsanstalt Lübeck, dann ließ sie das Gericht unter Auflagen auf freien Fuß. Am 19. Oktober soll der Prozess nun mit der Verlesung der Anklageschrift beginnen.

Derweil soll in Brandenburg an der Havel an diesem Donnerstag der Prozess gegen den ehemaligen KZ-Wachmann Josef S. beginnen. Dem 100 Jahre alten Angeklagten, der 1942 bis 1945 als SS-Wärter im Konzentrationslager Sachsenhausen tätig war, wird Beihilfe zum grausamen und heimtückischen Mord an 3518 Menschen zur Last gelegt.

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