Perspektive

Ausgepackte Koffer

»Wir haben Clubs, Restaurants und Agenturen. Wir sind mehr als J-Date-Metaphern, Gedenkveranstaltungen und Sommercamps.« Foto: thinkstock

Der kanadische Musiker Drake, bürgerlich Aubrey Drake Graham, der seine afroamerikanisch-jüdischen Wurzeln binnen kurzer Zeit zu einer unverkennbaren Marke machte, rappt in seinem Stück »Bar Mitzvah«: »I read the Old Testament, okra and matzahball, I’ll eat the rest of it. I celebrate Hanukkah, dated Rihannakah. Birth right in Israel, mama from Canada. Daddy from Africa.« Tallit und Hip-Hop? Rap und Manischewitz? Schul und Sneakers?

Der 28-jährige Weltstar schafft das, was kaum ein anderer vor ihm möglich machte: seinem offen praktizierten religiösen Background derartige Coolness zu verleihen, dass Jüdischsein in Hip-Hop- und Lifestylekreisen gleichzeitig salonfähig und clubtauglich wird. Ein Trend, der auch unterhalb des Medienradars eine leise Revolution nach sich zieht – jüdische Nonchalance und unverkennbare Selbstironie, die wir bisher von den grauen Eminenzen der »Jewish Comedy« wie etwa Larry David oder Woody Allen kennen, finden Einzug in die internationale urbane Subkultur.

berührungsängste
Was in den USA bereits offen gelebt wird, etabliert sich über den großen Teich hinweg auch in unseren Breitengraden. Zwischen Berlin, München, Frankfurt und Köln blicken wir nach vorn und überwinden Berührungsängste durch – beinahe schamlose – Offenheit. Nach Monaten des wiederaufkeimenden Antisemitismus sowie nicht enden wollender Debatten über unsere ideelle und physische Heimat, die uns Fragen wie »Wo gehören wir hin?« stellen lassen, kann die Zeit für eine Nennung dieser Leistungen nicht besser sein: Zwischen der frivolen Ära jüdischer Kreativer der Weimarer Republik und unserer jüdischen Gegenwart klaffte zu lange ein unüberwindbar scheinender Abgrund. Heute stellen wir keine Fragen mehr oder geben Antworten – wir setzen Zeichen.

Glaube und Globalisierung stehen nicht in Konkurrenz zueinander. So sind auch die Grenzen zwischen Paris, Kopenhagen und Berlin kaum spürbar, wenn das Internet zum Liveticker unserer gemeinschaftlichen Identität wird. Gelitten und gefeiert wird nach wie vor im Kollektiv, wenngleich es scheint, als würde kritischen Stimmen innerhalb der jüdischen Gesellschaft mit mehr Toleranz begegnet – wir sind nun mal ein Volk der Aufklärung.

wurzeln
Die Scheu vor der öffentlichen Auseinandersetzung mit unseren Wurzeln weicht einem starken Drang, sich wieder in etwas zu verwurzeln. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten entwickelte sich Deutschland sukzessive von der bloß geografischen zur ideellen Heimat für die hiesige jüdische Gesellschaft – obwohl die Debatte, ob wir nun deutsche Juden oder jüdische Deutsche sind, höchstwahrscheinlich nie voll und ganz verstummen wird. Es mag übermütig klingen, von einer Renaissance zu sprechen, doch das Wort »Übermut« kommt nicht von ungefähr: Mutig, bewusst und aktiv gestalten wir unsere deutsch-jüdische Zukunft.

Jüdisch, Single, sucht? Wir sind mehr als J-Date-Metaphern, Gedenkveranstaltungen und Sommercamps. Wir haben Clubs, Restaurants und Agenturen. Wir sind Sportler, Performer, Organisatoren und Macher, die trotz oder gerade wegen der uns bekannten Hürden die Gemeinden und Jugendzentren verlassen, um offen unsere Wurzeln zu leben und – vor allem – erlebbar werden zu lassen. Wir müssen nicht mehr nach New York, Amsterdam und Antwerpen fahren, um ein schmackhaftes Pastrami-Sandwich zu essen und jüdischen Lifestyle zu erleben.

jugendkongress Dann die großen jüdischen Events: Unter dem bezeichnenden Motto »Make a Difference« fand am vergangenen Wochenende zum 14. Mal die Jewrovision statt, ein Musik- und Tanzevent in Anlehnung an den Eurovision Song Contest, das mehr als 1000 Teilnehmer, Zuschauer und Unterstützer zusammenbringt. Hunderte junge Juden treffen sich dann an diesem Wochenende in Berlin beim jährlichen Jugendkongress. Und dann der Sommer: »Makkabi lebt!« Wer das nicht glaubt, der sollte im Juli und August seine Augen nach Berlin richten. Denn hier, zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg, werden in dieser historisch bedeutsamen Stadt die European Maccabi Games ausgetragen. Sportler, Trainer, Funktionäre und Fans aus ganz Europa kommen zusammen, um Kampfgeist unterm Davidstern zu erleben.

Letzten Endes kommt es wohl auch bei uns darauf an, ob wir den Kidduschbecher als halb voll oder halb leer betrachten. Trotz aller Diskussionen, die wir unter uns führen, und dem, was andere über uns schreiben, bleibt festzustellen: Wir sind eine neue Generation selbstbewusster Juden, die auf ausgepackten Koffern tanzt, singt und Großes schafft.

Die Autorin, Jahrgang 1984, lebt und arbeitet als Texterin und Kolumnistin in Berlin (facebook.com/linda.rachel.text).

Großbritannien

Israelfeindlicher Protest: Greta Thunberg festgenommen

In London treffen sich Mitglieder der verbotenen Gruppe Palestine Action zu einer Protestaktion. Auch die schwedische Aktivistin ist dabei. Die Polizei schreitet ein

 23.12.2025

Stockholm

Was bleibt von den Mahnungen der Überlebenden?

Der Schoa-Überlebende Leon Weintraub warnt vor der AfD und Fanatismus weltweit. Was für eine Zukunft hat die deutsche Erinnerungskultur?

von Michael Brandt  23.12.2025

Israel

Netanjahu warnt Türkei

Israel will die Zusammenarbeit mit Griechenland und Zypern stärken. Gleichzeitig richtet der Premier scharfe Worte an Ankara

 23.12.2025

New York

Mitglieder von Mamdanis Team haben Verbindungen zu »antizionistischen« Gruppen

Laut ADL haben mehr als 80 Nominierte entsprechende Kontakte oder eine dokumentierte Vorgeschichte mit israelfeindlichen Äußerungen

 23.12.2025

Düsseldorf

Reul: Bei einer Zusammenarbeit mit der AfD wäre ich weg aus der CDU

Die CDU hat jede koalitionsähnliche Zusammenarbeit mit der AfD strikt ausgeschlossen. Sollte sich daran jemals etwas ändern, will Nordrhein-Westfalens Innenminister persönliche Konsequenzen ziehen

 23.12.2025

Interview

»Diskrepanzen zwischen warmen Worten und konkreten Maßnahmen«

Nach dem Massaker von Sydney fragen sich nicht nur viele Juden: Wie kann es sein, dass es immer wieder zu Anschlägen kommt? Auch der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, sieht Defizite

von Leticia Witte  22.12.2025

Washington D.C.

Kritik an fehlenden Epstein-Dateien: Minister erklärt sich

Am Freitag begann das US-Justizministerium mit der Veröffentlichung von Epstein-Akten. Keine 24 Stunden später fehlen plötzlich mehrere Dateien - angeblich aus einem bestimmten Grund

von Khang Mischke  22.12.2025

Australien

Behörden entfernen Blumenmeer für die Opfer von Bondi Beach

Die Regierung von New South Wales erklärt, man habe sich vor dem Abtransport der Blumen eng mit der jüdischen Gemeinde abgestimmt

 22.12.2025

Sydney

Attentäter warfen Sprengsätze auf Teilnehmer der Chanukka-Feier

Die mutmaßlichen Attentäter Naveed und Sajid Akram bereiteten sich auf das Massaker vor. Ihre Bomben explodierten nicht

 22.12.2025