Berlin

Auf eigene Faust

Es ist kurz vor Mitternacht an der Modersohnbrücke in Berlin-Friedrichshain. Eine ziemlich düstere Gegend, da leuchtet das Handy des Fotografen auf: »Woran erkennen wir dich?«, fragt die unbekannte Nummer. »Basecap, Brille, blaue Jacke, Kamera«, antwortet er. Unter der Brücke rollt eine S-Bahn Richtung Warschauer Straße. Dann folgt wieder eine Nachricht: »Hinter dir.«

Als sich der Fotograf umdreht, tauchen drei Menschen aus der Dunkelheit auf: »Héctor«, wie er sich vorstellt, mit spanischem Akzent. Dann eine Frau mit Basecap. Und schließlich ein Mann in Cargohosen, auf denen etwas Farbe klebt. Keiner verrät seinen echten Namen. Auch die restlichen Personen, die in diesem Text auftauchen, heißen eigentlich anders. Sie wollen anonym bleiben. Weil das, was sie hier vorhaben und seit Monaten tun, strafrechtlich relevant ist. Aber vor allem, weil sie sich in einem »Kampf« befinden, so sagt es einer beim ersten Telefonat. Und in einem Kampf ist es immer besser, wenn der Gegner wenig über einen weiß.

In Berlin tobt ein Straßenkampf

Tatsächlich tobt in Berlin ein Straßenkampf – allerdings vor allem mit Stickern und Sprühdosen. Sprayt einer »Free Palestine«, steht einen Tag später »from Hamas« darunter. Auf »From the River to the Sea« klebt schnell ein Israel-Sticker. Aber auch der wird bald wieder abgepult. Wer in der Stadt die Augen offen hält, entdeckt die Schlachtfelder überall: an Laternenmasten, in öffentlichen Toiletten, an der Bushaltestelle. Faustgroße Kritzeleien und haushohe Schriftzüge, speckige Zettel und Hochglanzplakate. Die Parolen mal klar und mal kryptisch, mal politisch, mal voller Hass.

»Die Straße spiegelt den Konflikt, den wir in unserer Gesellschaft austragen«, sagt Karla. Sie ist alleinerziehend und arbeitet im Kundenservice. »Ich bin sehr korrekt erzogen worden«, sagt die 36-Jährige. Als sie kurz nach dem 7. Oktober 2023 ihren ersten Israel-Sticker an eine Ampel klebte, habe sie sich richtig mies gefühlt, erzählt sie und lacht. »Das ist ja Vandalismus.« Inzwischen reißt Karla alles ab, was ihr zwischen die Finger kommt. Und eine neue Ladung mit klebender Israel-Solidarität habe sie auch immer in der Tasche dabei. Sie hat sich organisiert, kennt viele andere, die mit ihr in den »Straßenkampf« ziehen: Sie wollen den öffentlichen Raum nicht der Hamas-Propaganda überlassen, sagen sie.

Keiner verrät seinen echten Namen – sie wollen anonym bleiben.

Niemand kann sagen, wie viele sie eigentlich sind und wer was genau macht. Sie sind eine Bewegung. Es gibt unterschiedliche Chatgruppen zur Vernetzung, mit zehn, 20, 200 Mitgliedern. Manche teilen einfach Fotos, wenn sie Israelhass auf ihren alltäglichen Wegen entdecken. Andere, wie Karla, tragen die Funde in eine lange Tabelle ein und melden sie an die Polizei und an RIAS, die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus. Aber das ist ein frustrierender Job. Die deutschen Behörden seien langsam und wollten manche Dinge einfach nicht sehen, meinen einige. »Als ich eines der ersten roten Dreiecke in Neukölln melden wollte, hatte der Polizist am anderen Ende der Leitung, glaube ich, keine Ahnung, wovon ich sprach«, erzählt Jelena.

Mit dem roten Dreieck markiert die Hamas in ihren Videos feindliche Ziele. Im Frühjahr tauchten sie plötzlich auch in Berlin auf, unter anderem an jüdisch geprägten Orten und in einem Klub, der sich gegen Antisemitismus starkmachte.

Immer wieder versuchte die Gruppe, besonders schwere Fälle von Gewaltandrohungen im öffentlichen Raum an die Medien, in die Politik und vor Gericht zu bringen. Mit mäßigem Erfolg. Reine Unterstützungsbekundungen für die Hamas seien nicht strafbar, heißt es dann zum Beispiel. Ein Fall hängt seit Monaten beim Gericht fest. Da ist es natürlich schneller, selbst mit der Spraydose Hand anzulegen. Es waren am Ende auch Menschen aus der Gruppe, die die roten Dreiecke entfernt haben. »Wir werden dort aktiv, wo der Staat es einfach nicht kann, aber auch dort, wo der Staat es nicht will«, fasst Karla zusammen.

Und so ziehen einige von ihnen selbst los, um den Hass zu überkleben, zu übermalen, eigene Botschaften zu setzen. So wie Héctor, der bis zu drei Nächte in der Woche unterwegs ist. Zusammen mit mir Frau im Basecap und dem Typ in Cargohosen laufen sie jetzt die Modersohnbrücke hinauf, in den Rucksäcken klackern die Farbdosen. Sie haben die Magnete vergessen, die Profisprayer immer in der Tasche haben, um die Mischkugeln in den Sprühdosen beim Transport still zu halten. Sonst aber ist das Trio für die Nacht gut gewappnet: Die drei haben Plastik- und Papierschablonen eingepackt, blaue, rote und schwarze Farbe. Und einen Selfie-Stick, mit dem man Sticker so weit oben am Laternenmast befestigen kann, dass kein Mensch sie erreicht und wieder abziehen kann.

Auf den Boden der Brücke hat jemand lange Schriftzüge gemalt: »Free Palestine from Zionism« steht da, und »I$rael«, mit Dollarzeichen. Héctor macht sich daran, die Buchstaben zu übermalen. Die anderen stehen Wache. Auf die Autos müsse man achten, sagt die Frau, besonders auf Polizeiwagen, und natürlich auf Toyota Hybrid. In denen säßen häufig arabische Uber-Fahrer, die anderen über Funk Bescheid geben können.

Nach Neukölln sollte man nicht gehen, heißt es

Auch in den anderen Gesprächen fällt auf, dass manche in der Gruppe ihre »Gegner« klar benennen wollen: Nach Neukölln sollte man nicht gehen, heißt es dann, sich vor »kräftigen Arabern« in Acht nehmen. Einmal betont einer, wie klein die Gruppe derer ist, die sich für Israel einsetzen – »im Gegensatz zu fünf Millionen Muslimen«. Dann korrigiert er sich: Es seien ja nicht alle so. Und außerdem hätten sie letztens einen Hipster beim Kleben von Israelhass erwischt, Typ nordeuropäischer Student.

Auch gibt es in der Gruppe unterschiedliche Positionen darüber, was entfernt oder übermalt gehört. »›Free Palestine‹ an sich ist ja nicht schlimm«, meint Karla. Aber direkt gegenüber einer Synagoge eben schon. Auch das Trio in Friedrichshain kommt später an einer Schule vorbei, auf die jemand »Free Palestine« gesprayt hat. Der Spruch wird übermalt, keine Diskussion. Überhaupt wird in dieser Nacht wenig über Politik gesprochen. Man ist sich ohnehin einig.

»Wir werden dort aktiv, wo der Staat es nicht kann, aber auch dort, wo der Staat es nicht will.«

Warum schlagen sich diese Menschen die Nächte um die Ohren? Für ein paar Sticker und Graffitis, die ohnehin bald wieder übermalt werden?

Omri ist einer der Aktivsten in der Gruppe. Er ist vor sieben Jahren aus Israel nach Berlin gezogen, weil er gedacht habe, »das sei ein guter Ort für einen linken Israeli wie mich«. Der 7. Oktober aber habe alles verändert. Er sei enttäuscht von den deutschen Behörden, die auf seine Anzeigen nicht ausreichend reagierten. »Hamas-Anhänger laufen einfach frei in der Stadt herum«, sagt er. Dabei gebe es aus ihrer Richtung eindeutige Gewaltdrohungen.

»Worauf warten die noch? Bis einer einen Anschlag macht?«, fragt er, sichtlich entrüstet.
»Ich denke, ja«, sagt Karla, die beim Interview neben ihm am Tisch sitzt.
»Und was dann?«, fragt Omri.
»Dann wird es allen wieder wahnsinnig leidtun«, sagt Karla und rollt mit den Augen.
»Ich habe irgendwann verstanden, dass wir selbst agieren müssen«, sagt Omri.

Er sei lange in eine Art Schockstarre gefallen, doch es sei wichtig, ins Handeln zurückzufinden. »Ein Sticker gibt dir schon einen Tropfen Dopamin, aber dann richtig loszuziehen und ein paar Straßenzüge, sagen wir, umzudekorieren, fühlt sich wirklich gut an.«

Einige in der Gruppe sind selbst von Antisemtitsmus betroffen

Es gibt einige in der Gruppe, die ihren Aktivismus über eine persönliche Verbindung zu Israel erklären oder selbst von Antisemitismus betroffen sind. Andere, wie Jelena, hatten zuvor nie etwas mit dem Thema zu tun. Jelena kommt ursprünglich aus Serbien und vermietet ab und an eine Ferienwohnung in Berlin. Als sie nach dem 7. Oktober ein Gästepaar im Small Talk fragte, woher sie denn angereist seien, schauten diese sich angespannt im Treppenhaus um und flüsterten dann: »Aus Israel.« Für Jelena sei das ein Weckruf gewesen, erzählt die 34-Jährige: »Deren Land wurde gerade attackiert, und jetzt haben sie Angst zu sagen, woher sie kommen.« So habe der Aktivismus bei ihr angefangen. Seitdem sie in der Gruppe sei, habe sie erst gemerkt, welches Ausmaß der Israelhass im öffentlichen Raum habe, sie sehe ja immer die Fotos in der Chatgruppe.

»Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es für Juden sein muss, an diesen Parolen vorbeizulaufen«, sagt sie. »Ich überklebe die Sachen, weil ich hoffe, dass es ihnen das Gefühl gibt: Ihr seid nicht allein da draußen. Diese Stadt ist nicht voll von Antisemiten, sondern es gibt auch Menschen, die euch supporten.«

Um drei Uhr morgens ist das Friedrichshainer Trio wieder an der Modersohnbrücke angekommen. Héctor und die Frau im Basecap steigen zur Cargohose ins Auto. »Laila tow«, ruft die Frau noch, dann sind sie weg. Auf der Brücke steht jetzt: »Free Palestine from Islamism«, die frische schwarze Farbe glänzt im Laternenlicht. Mal sehen, wie lange sie bleibt.

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